Der Professor und der Arzt

Professor Lobrecht hatte Schmerzen
an dem Rücken und am Zeh.
Der Magen drückte und am Herzen
tat es manchmal etwas weh.

Lobrecht wollte Stärke zeigen,
musste seinen Mann stets stehn,
gehörte niemals zu den Feigen,
die immer gleich zum Arzte gehn.

Doch seine braves Eheweibchen                                                                                                 jagte ihn zum Doktor hin;
rückte täglich ihm ans Leibchen.
Widerstand war ohne Sinn.

Und nun fragte der Herr Doktor:
„Wo tut‘s weh, was sagt das Blut?“
Lobrecht wusste nichts zu sagen:
Heute ging es ihm doch gut.

Noch lang der Herr Professor lebte,
nur langsam wurde Lobrecht alt.
Des Doktors Leben längst entschwebte,
die gute Frau war auch schon kalt.

Gedächtnisschwund

Harry Mehler litt seit Jahren an Gedächtnisschwund. Bei vielen Ärzten war er gewesen. Keiner hatte ihm helfen können. Eigentlich war es gar kein Gedächtnisschwund, sondern es handelte sich eher um Gedächtnislücken, über die er klagte. Irgendwelche Momente seines Lebens schienen ihm zu fehlen, Sekunden, manchmal auch Minuten. Zuweilen konnte er sich an ganze Sätze nicht mehr erinnern, die jemand gesprochen hatte, seine Frau oder sein Chef zum Beispiel. Selbst, wenn ihm die Betreffenden ihre Worte wiederholten und ihn an den Zusammenhang erinnerten, in dem sie sie gesprochen hatten, änderte es nichts. Es war ihm, als fehlten ihm die entsprechenden Minuten seines Lebens. Sie waren einfach nicht da. Er hatte das Gefühl, zu den Zeiten seiner Gedächtnisleere nie gelebt zu haben.

Anfänglich hatten die Menschen in seiner Umgebung eher belustigt auf diese Schwäche reagiert. Sie nannten ihn den „zerstreuten Professor“; seine Frau bezeichnete ihn als den „vergesslichsten Menschen, den die Welt je sah“. Nach und nach hatten die Gedächtnislücken aber bedrohliche Ausmaße angenommen. Harry Mehler konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren. Bei längeren geschäftlichen Verhandlungen fehlten ihm ganze Ausschnitte, insbesondere, wenn sich die Termine auf mehrere Tage erstreckten. Anlässlich seines letzten Fortbildungskurses, der ihm eine berufliche Beförderung hätte einbringen sollen, war er glatt durch die Prüfung gefallen, weil ihm einige Teile des Lernstoffes, die die anderen Kursteilnehmer beherrschten, entgangen waren. Nicht die schwierigsten Dinge fehlten seiner Erinnerung, sondern oft Banalitäten, aber er wusste sie einfach nicht, hatte nie davon gehört. Die anderen aber hatten. Fragen wie: „Mensch, Harry, erinnerst du dich denn nicht, das hat der und der gerade gesagt, als du diese Vorschrift ‚lächerlich‘ nanntest?“ blieben erfolglos. Er war dabei gewesen, hatte dagesessen, die anderen erinnerten sich, er erinnerte sich nicht.

Harry Mehler war gesund. Er trank kaum Alkohol, nahm keine Medikamente. Für die Ausfälle seines Erinnerungsvermögens gab es keine Erklärung, auch nicht aus medizinischer Sicht. Dann begann Harry, sich selbst zu beobachten und zu kontrollieren. Er bemerkte manchmal einen winzigen Ruck in seiner Umgebung, morgens, wenn er zur Arbeit ging, beim Mittagessen, beim Anschauen des Fernsehprogrammes. Es war ein Ruck, wie man ihm von Filmen kennt, durch einen Schnitt entstanden. Die Umgebung, die Handelnden, alles war noch da, nur von einem Moment zum nächsten schienen sich die nicht stillstehenden Dinge in einem zeitlichen Sprung weiterbewegt zu haben. Dieses Phänomen bemerkte Harry immer öfter. Der Gedanke daran ließ ihn nicht los. Je mehr er sich damit befasste, je häufiger er daran dachte, desto zahlreicher wurden die Sprünge in seinem Leben. Schlimmer noch: Die Ausfallzeiten verlängerten sich. Er konnte feststellen, wie sich Menschen plötzlich um mehrere Meter weiterbewegt hatten, einmal sogar, wie zwei Autos ohne für ihn erkennbare Ursache und ohne jedes vorherige Geschehen, das dazu hätte führen können, zusammengestoßen waren. Manchmal brach für ihn die Nacht übergangslos herein – ohne Dämmerung.

Harry machte Experimente. Er wollte feststellen, wie groß die Zeitsprünge waren, gegen die er sich nicht wehren konnte. Er blickte auf die Uhr. Nur manchmal hatte er damit Erfolg. Wenn er den Zeitsprung bemerkte, war er ja schon geschehen, und wenn er dann erst auf die Uhr sah, war es schon zu spät. Durch immer häufigeres Betrachten der Uhr gelang es ihm aber doch, zuweilen eine bestimmte Zeitdifferenz festzustellen. Sie betrug ein bis zwei Minuten, manchmal fünf, manchmal auch mehr oder weniger, ganz sicher war er sich da nicht. Oft hatte er in der Zwischenzeit seinen Standort gewechselt, aber an ihm selbst waren kaum Veränderungen eingetreten, oder nur wenige. Dann stellte Harry Mehler fest, dass es ab und zu auch ganze Stunden gewesen sein mussten, um die er sich weiterbewegt hatte. Er saß noch im selben Zimmer, hatte sich zur Ruhe und zur Verdauung nach dem Mittagessen im Sessel zurückgelehnt – da war es dunkel und Abend. Hatte er vielleicht geschlafen? Nein, er wusste, dass er hellwach war, genau aufgepasst hatte er, weder eine Müdigkeitsphase hatte es gegeben noch die Schläfrigkeit nach dem Aufwachen. Die Zeit war einfach weitergerückt. Ohne ihn bewusst mitzunehmen. Aber sein Körper musste die Zeit dennoch durchlebt haben, denn er verspürte wieder Hunger. Auch seine Haare waren in Unordnung geraten, wie er im Spiegel feststellen konnte. Aber er hatte nicht geschlafen. Oder doch?

Dann verschlimmerte sich sein Befinden. Er verbrachte Tage ohne Gedächtnis. Die „Filmrisse“ wurden immer häufiger und länger. Wie er auf seine vorsichtigen Erkundigungen bei anderen Menschen feststellen konnte, hatte er normal gelebt, ohne dass etwas Besonderes an ihm aufgefallen wäre. Für ihn war die Zeit aber ruckhaft weitergerückt; das Leben in den Tagen der Erinnerungslosigkeit hatte es für ihn nicht gegeben. Und er beobachtete sich weiter, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen.

Harry Mehler lag in einem Krankenhausbett. Schon einige Tage hatte er hier verbringen müssen; denn er litt seit dieser Zeit an einer unerklärlichen körperlichen Schwäche, die bei den Ärzten ernste Besorgnis ausgelöst hatte. Sie wollten ihn erst einmal unter „stationärer Beobachtung“ halten, so sagten sie. Auch im Krankenhaus bemerkte Harry die Zeitsprünge. Sie waren aber nicht gut zu verfolgen, denn allzu oft wechselte er übergangslos vom Wachzustand in den Schlaf, und dann wusste er nicht mehr, was Traum und was Wirklichkeit war. Außerdem bewegte sich in dem kleinen weißen Zimmer so wenig, dass er Veränderungen oft nur schwer feststellen konnte.

Schließlich kam Harry auf den Einfall mit dem Zählen. Lange Zahlenreihen sagte er auf, beginnend mit 1, 2 , 3…Oft kam er bis in die Tausende. Er dachte, dass er bei einem Zeitsprung anhand der Differenz zwischen der letzten Zahl, an die er sich erinnern konnte und der Zahl, bei der er gerade war, wenn er den Sprung bemerkte, die vergangene Zeit bestimmen könnte. Einige Male gelang ihm dies auch. Er zählte etwa im Sekundenrhythmus. Wenn ihm nun zum Beispiel bei der Zahl „240“ ein Zeitsprung auffiel, und die letzte Zahl, an die er sich noch genau erinnern konnte, die „120“ war, dann wusste er, dass ihm für etwa 120 Sekunden der zurückliegenden Zeit, also für zwei Minuten, die Erinnerung fehlte.

Einmal zählte er wieder: „304, 305, 306, 307, 308, 309“; da fühlte er den ihm schon bekannten zeitlichen Ruck. „310, 311“. Nein, es war offenbar doch kein Zeitsprung gewesen; denn er zählte immer noch ruhig weiter, konnte sich an alle Zahlen erinnern, höchstens dass vielleicht zwischen zwei Zahlen ein winziger Zeitsprung gewesen war, ein Sekundenbruchteil. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Harry Mehler sah an sich herunter: Seine Hände zitterten. Sie waren nicht mehr glatt und kräftig, sondern faltig und sahen wie die eines alten Mannes aus. Mit weißen Haaren waren seine Unterarme bedeckt, lederartige, runzlige Haut spannte sich über die dünnen Knochen.

Lächelnd beugte sich die Schwester über das Bett: „Na, Opa Mehler, wie geht es uns denn heute?“ fragte sie. „Sind wir wieder beim Zählen?“

Die Viren

Zwei Viren trafen einen Mann

am Morgen in der Straßenbahn.

Der Herr sah frisch und munter aus

und fuhr zur Arbeit von zu Haus.

Die Viren sprachen : “Ach wie fein,

bei jenem nisten wir uns ein.“

 

Gesagt, getan. Kaum war’s gesprochen,

sind sie ihm in den Hals gekrochen.

Dort blieben sie den ganzen Tag,

bis abends er im Bette lag.

Indes, so sei man noch belehrt,

hatten die Viren sich vermehrt.

Es waren nicht mehr nur die zwei,

sondern zweitausend oder drei-.

 

Des Nachts nun fingen diese an

zu kriechen durch den armen Mann,

in die Beine, Arme, Hände,

durch Adern und durch Zellenwände,

ins Gehirn und in den Bauch,

wie es bei den Viren Brauch;

sie schwammen hin, sie schwammen her

-und es wurden immer mehr!

 

Ein neuer Tag nimmt seinen Lauf.

Der Wecker schrillt. Der Mann wacht auf,

will die Glieder wohlig strecken

und erkennt mit großem Schrecken,

dass er krank geworden ist,

was ihn ärgert und verdrießt.

Es schmerzt der Kopf, und er hat Fieber,

den ganzen Tag im Bette blieb er.

 

Unterdessen sind die Viren

gewandert bis in Herz und Nieren,

haben, wie es musste kommen,

vom ganzen Mann Besitz genommen;

waren in der zweiten Nacht

auf der Höhe ihrer Macht,

die sie dergestalt genossen,

dass neue Viren ihr entsprossen.

 

Am nächsten Tag, ach große Not,

da fühlt der Mann sich schon halb tot;

er ächzt und stöhnt, kann kaum noch leben,

geschweige denn die Glieder heben,

also dass zum guten Schluss

dann der Doktor kommen muss.

Dieser gibt ihm mancherlei:

Teuren Rat und Arzenei.

 

Wie man weiss,  sind Viren nun

gegen Medizin immun.

Tabletten, Pulver, Spritzen, Saft

geben ihnen neue Kraft,

sind für sie nur Leckerbissen,

die sie hoch zu schätzen wissen.

Und unser Mann, so ist das eben,

blieb weiter krank, die Viren –leben.

 

Es geht der Krug, wer kennt das nicht,

so lang zum Wasser, bis er bricht.

Genauso war die Sache hier:

Die Viren fraßen voller Gier,

was nur das war, mit Genuss,

schwelgten in dem Überfluss,

bis sie Maß und Ziel vergaßen

und sich gegenseitig fraßen.

 

Gesund fuhr wieder unser Mann

Am Morgen in der Straßenbahn.

Er sah recht blass und kränklich aus,

ob vom Aufenthalt zu Haus

oder vom Behandlungspreis,

das nur der Arzt zu sagen weiß.