Religiöse Gedanken

Woher – Wohin?

Eine Einladung zum – gemeinsamen – Reisen ins Ungewisse

Begonnen in Bad Birnbach im August 2016

Unsere Grundlagen sollen sein:

1. Ich weiß nichts
2. Ich suche

Wer also meint, er wisse etwas und wer meint, er müsste nichts mehr suchen:

Bitte nicht einsteigen!

Warum nicht?

a) Wer etwas weiß und wer nichts sucht, braucht diese Reise nicht.
b) Die Anderen brauchen einen solchen Reisegefährten nicht; denn: Was sollen wir mit einem Reisegefährten , der bereits angekommen ist, bevor wir uns auf die Reise begeben? Und was soll er mit uns anfangen?
c) Wer allerdings meint, er könne vielleicht schon etwas wissen und meint, er könne vielleicht dennoch etwas Neues finden, bitte einsteigen: der gefahrlose Ausstieg ist bei dieser virtuellen Reise ja jederzeit möglich.

Also, nun geht’s los:

Schon seit jeher gingen die Menschen auf Reisen: Zu Fuß oder mit einem Hilfsmittel. Lassen wir die „modernen“ Hilfsmittel wie das Auto, den Zug oder das Flugzeug außer Betracht und betrachten wir die Tiere als Lebewesen mit eigener Seele und nicht als domestizierte „Hilfsmittel“ für den Menschen , so bleibt eigentlich neben unseren Füßen nur das Boot.

Stellen wir uns unsere Reise daher am besten als eine Schiffsreise vor: Nicht auf einem großen Ozeanriesen, dem man fälschlicherweise Unsinkbarkeit zutraut, aber auch nicht auf einem Flussschiff mit bequemen Kabinen und ständigen Schlemmangeboten, sondern als eine Reise auf einem kleinen oder auch größeren Holzboot, das flach auf dem Wasser liegt, wenigen oder auch vielen Reisenden Platz bietet, auf einem Fluss dahingleitet, mit Stromschnellen und Untiefen kämpft oder auch auf einem See oder dem Meer irgendeinem Ufer zustrebt. Angetrieben wird das Boot vom Wind und mit Segeln oder mit Rudern und unserer Kraft.

Bevor das Boot ablegt, sollten wir einige Regeln für die Fahrt festlegen:

a) Jeder Reisende sollte versuchen, so ehrlich zu sein, wie er kann.
b) Jedes Wort, jede Behauptung kann und sollte nach Möglichkeit hinterfragt werden. Nichts ist selbstverständlich.
c) Das Boot steht jedem offen. Jeder kann jederzeit zu- oder wieder aussteigen.
d) Kritik ist gewollt und ausdrücklich erlaubt.
e) Beschimpfungen anderer sind möglich und zulässig –das Verachten anderer jedoch nicht.

Erster Test für die Bootsreise

Der Bootsführer erzählt:

„Die Dunkelheit der menschlichen Geschichte ist die Dunkelheit, die allen gemeinsam ist. Sie reicht vom Land der Toten bis an das sonnige Land des diesseitigen Lebens und geht nach unserem kurzen Dasein als Mensch sofort wieder nahtlos weiter bis in die Unendlichkeit, wieder als Land der Toten, zu dem ich dann auch gehören werde.

Im Grunde sind wir fast immer nur im Land der Toten. Es ist viel größer als unser diesseitiges Leben.

Vielleicht sind wir sogar immer nur im Land der Toten, merken es nur nicht, wenn die blendende Sonne des Lebens auf uns scheint. Dann fangen wir an, wie kältestarrende Würmer, Insekten oder Reptilien erst langsam und dann immer wilder hin- und herzuzappeln, fangen an zu leben, suchen uns selbst, suchen Partner, versuchen, uns fortzupflanzen, bis die helle Sonne im Land der Toten weiterwandelt und die nächste Generation zum Zappeln bringt.

Aus diesem Gesichtspunkt ist es gar kein Leben an sich, sondern nur eine kurze Unterbrechung des Todes, die wir ‚Leben‘ nennen.

Oder: anders ausgedrückt, die riesige Zeit des Todes wäre das eigentliche Leben, unser Zappeln unter der Sonne ist nur ein vorübergehender Zustand, der uns alle einmal (oder vielleicht auch mehrfach) trifft.

Was sich in dieser kurzen Sonnenzeit abspielt, ist vielleicht eine Metamorphose, wie wir sie von den Insekten kennen: Geburt, Leben und Tod sind Stadien wie Raupe – Puppe – Imago (z.B. beim Schmetterling), und dann geht es weiter zur nächsten Insektengeneration.

Das Eigentümliche dabei ist, dass wir uns während der Raupen- und Puppenzeit nicht mehr an die Zeit des vollentwickelten Insekts erinnern können und die Zeit des Schmetterlings gleichzeitig ersehnen und fürchten. Denn wenn wir als Schmetterling voll aufgeblüht sind, geht die Sonne des Lebens weiter, und ganz schnell folgt der Tod.

Aber was kümmert uns das, solange wir im Diesseits leben?

Damit sind wir auch schon bei der persönlichen Dunkelheit.

Unser persönliche Dunkelheit, also unser Gelerntes aus dem uns unbekannten Dunkel davor, ist sozusagen nur ein Spezialfall der geschichtlichen Dunkelheit, die jeden Einzelnen betrifft.

Vor dem Leben hat also jeder seine eigene, pränatale Dunkelheit: die Toten vor ihm haben ihn in die Metamorphose geschickt. Nach dem Tode geht es selbst erneut ins Totenreich, mit oder ohne Betrachtung der nächsten Generation.

So interessant dieser Vergleich aus dem Insektenreich auch ist, so wirft er sofort auch zahlreiche neue Fragen auf:

– Was geschieht mit den alten, abgestorbenen Schmetterlingen?

Sie zerfallen zu Staub, so wie auch die neuen zu Staub zerfallen werden.

Demnach wären nur die Stadien ‚Raupe, Puppe, Schmetterling‘ das ‚Leben‘. Der Rest wäre Staub.

– Woher kommt der organische Staub?

– Welche Rolle aber spielt die Sonne, die das alles erst ermöglicht?

Uns als Insekten könnte das natürlich egal sein. Wir sind ja nur Insekten. Das ‚Reich der Toten‘ interessiert viele nicht. Für sie gibt es nur Staub.

Aber seltsamerweise reicht das vielen von uns nicht; denn wir haben einen fragenden und suchenden Verstand mitbekommen.

Wir fragen uns immer nach dem ‚Woher‘ und ‚Wohin‘, nach den Ursachen, dem Sinn und nach einem ‚Urgrund‘ – oder auch nach einem Schöpfer.“

Ein Mitreisender fragt:

“Wenn ich nichts weiß, aber suche, so kann ich doch nur im Diesseits suchen mit meinem Verstand.
Das Jenseits ist mir verschlossen, in beide Richtungen, wenn wir das zweidimensional betrachten. Also das Jenseits vor meinem Leben und das Jenseits danach. Ich weiß also weder, woher ich komme, woher alles kommt, noch wohin ich gehe, wohin alles geht.
Natürlich versuchen wir, auch im Jenseits mit dem Verstand zu suchen.
Hilfsmittel sind mir dabei

• die Naturwissenschaften
• die Philosophen und die Gelehrten aller Zeit und ihre Bücher
• die sogenannten ‘heiligen’ und ‘mystischen’ Bücher
• die religiösen ‘Fachleute’ z.B. als Dialogpartner.

Aber ständig stoßen wir dabei an unsere Grenzen, an die Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten und die Grenzen unseres Menschenverstandes.
Für ein gelöstes Problem tun sich wieder zehn neue, ungelöste auf. Und am Ende müssen wir feststellen, dass wir eigentlich nichts wissen.

Schließlich bleiben

• der Glaube, an was auch immer
• die Hoffnung auf ein Zeichen, auf eine klitzekleine ‘Erkenntnis’
• das Warten auf den Tod und die Hoffnung auf eine ‘Erleuchtung’ danach.

Kann das denn befriedigend sein? ‘Glauben heißt nicht wissen’, heißt es in einem Sprichwort.
Vielleicht kann ich auch mit dem Glauben suchen? Und am Ende auf diesem Weg zum ‘Wissen’ gelangen?”

Der Bootsführer antwortet:

„Die Atheisten oder Ungläubigen aller Art haben es einfach. Ihre Gedanken drehen sich ums Diesseits. Sie leben hier und heute. Was davor oder danach war, ist ihnen nicht so wichtig. Die Naturwissenschaften geben ihnen viele Erklärungen. Was sie heute noch nicht erklären können, können sie vielleicht in Zukunft lösen. Irgendetwas war zwischen Urknall und Urknall. Oder wird sein. Vielleicht noch davor oder danach oder in einer anderen Dimension, die wir heute zwar noch nicht verstehen, aber leicht berechnen können. Die Mathematik macht vieles möglich.

Und was das Leben betrifft, so ist es eine Ansammlung spezieller Moleküle, die wieder zerfallen. Die ‚Seele‘ ist eine Erfindung dieser Moleküle.

Diese Menschen haben offenbar kein Problem mit den Grenzen ihrer heutigen Erkenntnismöglichkeit. Alles lässt sich berechnen, früher oder später. Vielleicht gibt es auch ein ‚Nichts‘, wenn es sich denn irgendwann mal berechnen lässt.

Manche von ihnen meinen, dass sie schon ein bisschen, aber vielleicht insgesamt – noch – nichts wissen. Aber das wird schon kommen. Irgendwann werden sie wissen. Oder vielleicht auch nicht. Auch der Atheismus macht vieles möglich.

Vielleicht werden sie ja mehr wissen, wenn sie tot sind. Aber das ist, naturwissenschaftlich gesehen, aus heutiger Sicht unbeweisbar.

Ein bisschen graust es mir vor diesen Menschen.

Jetzt aber zu den Gläubigen:

Wer wirklich ‚glaubt‘, ist sich seiner Sache ja sicher. Wer aber sicher ist, braucht nicht mehr zu suchen.

Also sind gläubige Menschen keine suchenden Menschen mehr. Oder?

Vielleicht müssen wir dabei differenzieren:

• Die Festigkeit des Glaubens
• Der Inhalt des Glaubens
• Glauben nach dem Wort
• Glauben an Symbole

Es gibt ja, extrem gesagt, Menschen, die an ‚Gott den Vater‘, ‚Allah, den Allmächtigen‘ oder ‚Jahwe, den Ewigen‘ glauben und diesbezüglich keinen Zweifel haben. oder auch an Außerirdische oder Engel oder Naturgeister, kosmische Energien, Seelenmeere und Seelenwanderungen, Inkarnationen oder irgendwelche Götter und sich dabei ihrer Sache so ‚sicher‘ sind, dass sie gar versuchen, andere zu überzeugen oder zu bekehren.

Ihre Überzeugungen nehmen sie von Priestern, aus Büchern, von den Eltern oder Lehrern, Missionaren, Heilkundigen, Sehern, Mönchen und Gurus aller Art, oder sogar aus dem Internet oder dem Fernsehen.

Manche studieren sogar Philosophie, Theologie oder Religionswissenschaften und beten dann passiv das daher, was ihnen davon am plausibelsten ist oder bauen auf der Grundlage des von ihnen Erlernten aktiv neue Gedankengebäude auf.

Diese Menschen sind teils Gläubige, teils Ungläubige, aber alle haben sie eines gemeinsam:

Sie wissen nichts.

Der Unterschied zwischen diesen Menschen besteht lediglich darin, dass die Naiven davon glauben, ‚dass sie etwas wissen‘, die Scharlatane oder Heuchler ‚so tun, als ob sie etwas wüssten‘, die Klügeren aber zugeben oder zumindest einräumen, dass sie ‚eigentlich nichts wissen‘.

Den wirklich Gläubigen aber ist das völlig egal, ob sie etwas wissen oder nicht. Sie haben ihren Seelenfrieden gefunden.

Hier fällt mir das Wort ein ‚Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich‘ (Matth. 5, 1-3).

Abgesehen von den verschiedenen Deutungen dieser Passage, vom griechischen Wortlaut her oder aus lutheranischer oder katholischer Sicht, bleibt eines festzuhalten:

Die angehenden Seligen wissen nichts, wollen nichts wissen, wenn überhaupt, dann wissen sie, dass sie nichts wissen, aber sie brüsten sich nicht damit und stellen sich auch niemals über andere.

Die aber glauben, etwas zu wissen und andere zu überzeugen versuchen, stellen sich damit über andere. Solche Menschen sind nach dieser Definition keine ‚Gläubigen‘, sondern eher ‚arme Seelen‘.

Die Gläubigen aber unterscheiden sich grob gesagt in zwei Kategorien:

• Die einen sind mit ihrer Unwissenheit zufrieden und folgen Vorbildern.
• Die anderen fragen, wozu sie ihren Verstand haben und fangen an zu suchen. Auch sie können sich an Vorbildern orientieren, aber eben nur zum Teil. Deshalb gehen sie auf diese Bootsreise.“

Der erste Mitreisende erwidert:

„Das ist aber viel auf einmal!

Ich habe verstanden:
Niemand weiß etwas. Unser Verstand bringt uns aber dazu, etwas zu suchen. Suchen können wir jedoch nur im Diesseits. Das Jenseits ist uns verschlossen.

Dabei, so habe ich gehört, macht das Jenseits aber die viel größere Zeit aus. Das erscheint mir plausibel. Die meiste ‚Zeit‘ waren wir nicht da und werden wir nicht da sein.

Andererseits aber scheinen offenbar viele Menschen gar nicht an ein ‚Jenseits‘ zu glauben. Also: Alles, was vor mir war und was nach meinem Tode sein wird, ist unbedeutend, spielt keine Rolle. Jedenfalls nicht für mich. Ich bin, erdgeschichtlich gesehen, sozusagen eine ‚Eintagsfliege‘.

Das kann ich einfach nicht glauben. Bin ich so unbedeutend? Ist alles, was ich denke und fühle, wo ich herkomme und hingehe, irrelevant? Wozu habe ich meinen Verstand? Was bedeutet die Liebe – nicht nur die sexuelle, sondern die Liebe insgesamt?

Die Atheisten argumentieren mit den Naturwissenschaften und mit den Philosophen. Neulich habe ich eine Rede von einem gewissen ‚Philipp Möller‘ gehört, der von vielen beklatscht und als ‚kluger Kopf‘ bezeichnet wurde. Eine atheistische Stiftung hat ihn sogar in ihren Beirat aufgenommen.

Ich habe seine Rede mehrfach angehört und bin aus ihm nicht klargekommen:

Er vergleicht Gott mit der ‚Zahnfee‘ – es sei ebenso absurd, an ihn zu glauben, wie an sie. ‚Beweisen‘ könne man beide nicht.

Seiner Ansicht nach ist also jeder Mensch, der sich Gedanken über sich selbst, das Diesseits und das Jenseits macht, sich nicht einfach mit den oberflächlichen ‚Erkenntnissen‘ der heutigen Naturwissenschaften zufriedengibt und nach einem Gott sucht, ein kindliches Gemüt, das an die ‚Zahnfee‘ glaubt.
Welch kindliches Gemüt ist dieser Herr Möller, muss ich da sagen!“

Der erste Mitreisende fährt fort:

„Klar, dieser ‚Herr Möller‘ spielt den Naiven. Er wirft in den wenigen Minuten seines Redebeitrages öffentlichkeitswirksam und populistisch alles zusammen – Religion, Philosophie, Staat – zimmert daraus ein diffuses Gebäude aus ‚Aufklärung und Humanität‘ und endet in einem Aufruf zur ‚Ethik für die Menschen und alle anderen Tiere‘. Er spricht vom Glauben ans ‚Diesseits anstatt dem Jenseits‘ und hält es mit dem Motto: ‚lieber Heidenspaß anstatt Höllenqual‘.

Er kommt vom Glauben an das Gute und Böse und die Bekämpfung der ‚Anderen‘ in den Religionen zu Epikur (seltsam: Platon und Aristoteles lässt er weg, sind wohl zu unbedeutend) über Kant, Nietzsche und Feuerbach zum Papst, zur Steuerung der katholischen Kirche durch den Vatikan, zur Kirchensteuer in Deutschland und Verwendung derselben, zu unseren Politikern und den ‚Werten des christlichen Abendlandes‘ (die ja erst gegen die Religionen erkämpft werden mussten) bis hin zur Homophobie und Islamophobie. In 2000 Jahren habe sich das Christentum von den alten Mythologien und einer ‚primitiven Herdenkultur‘ zu seiner heutigen Form entwickelt.

Unser Bootslenker hat vorhin über die Atheisten gesagt (oder war es über die Ungläubigen oder hat er beide auf einen Haufen geworfen?):

‚Ein bisschen graust es mir vor diesen Menschen‘.

Ja, so kam mir die Rede des ‚Herrn Möller‘ vor. Ein bisschen graust es mir vor diesem und allen anderen, die ihm begeistert zuklatschen.

Ich denke, die Menschen sind ‚Rosinenpicker‘. Unsere derzeitige Bundeskanzlerin Merkel hat diesen Ausdruck nach der Volksabstimmung im Vereinigten Königreich zum EU-Austritt verwendet. Die ‚EU-Nein-Sager‘ wollen nicht mehr dazugehören, aber trotz dem Austritt keine Nachteile daraus haben. Die anderen EU-Bürger, die (noch) dazugehören, wollen aber aus ihrer EU-Mitgliedschaft nach Möglichkeit ausschließlich Vorteile haben. Der Begriff der ‚Solidarität‘ ist zum Fremdwort geworden.

War unsere ganze bisherige Menschengeschichte ein Fehler? Sind und waren alle Religionen unnötig oder sogar schädlich? Was ist mit der Geschichte der Religionen und der Philosophie? Können wir uns aus dieser und aus der Menschengeschichte insgesamt nur die uns passenden ‚Rosinen‘ herauspicken?

Haben denn so viele Menschen keine Lust mehr zu denken? Gewiss, wir können uns Begriffe heraussuchen, die uns gerade in den Kram passen, wie z.B. ‚Demokratie‘, ‚Humanismus‘, ‚Humanität‘, ‚Aufklärung‘, ‚Ethik‘, und diese in oberflächlichster Art und Weise hinausposaunen. Das Ganze wird einigermaßen rhetorisch geschickt mit lustigen Wortspielen garniert, und schon haben wir die Klatscher auf unserer Seite, und auch in den sozialen Netzwerken kommt es gut an.

Ich stelle mir die Frage, wie es mit unserer Bildung weitergeht. Was soll aus unseren Kindern und Enkeln werden? Oder ist das bei unserer Bootsfahrt nicht so wichtig?“

Der Bootsführer antwortet:

„Danke für diesen interessanten Beitrag.
Ob ich ‚Bootsführer‘ oder ‚Bootslenker‘ genannt werde, ist mir ziemlich egal. Viele Menschen in Deutschland scheuen sich davor, das Wort ‚Führer‘ zu verwenden, weil es ja von 1933 – 1945 einen Diktator hier gab, der ein sehr negatives Beispiel für einen ‚Führer‘ darstellte. Es war halt ein Mensch, der sein Volk in die Irre führte.
Ich kann diese Menschen gut verstehen, die seitdem nichts mehr von einem ‚Führer‘ wissen wollen.
Andererseits aber beschneiden sie aus ‚political correctness‘ die Möglichkeiten der deutschen Sprache und schaden sich dadurch selbst. Ein ‚Führer‘ ist nun einmal mehr als ein bloßer ‚Fahrer‘ oder ‚Lenker‘. Ein guter ‚Führer‘ geht voran, trägt die Verantwortung, er ‚lenkt‘ nicht nur, sondern er ‚leitet‘ auch, wie die weise Elefantenkuh die Herde leitet.
Aber da ich ja selbst gar nicht weiß, wohin unsere Reise geht, ist vielleicht der Begriff des ‚Bootsführers‘ in der Tat zu hinterfragen.
Und je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr bin ich für diesen Hinweis dankbar. Unsere Bootsfahrt ist ja eine Reise ins Ungewisse, ich weiß nicht, wo unsere Reise hingeht, kenne das Ziel nicht, ich weiß nicht einmal, wo die Reise des Bootes begann, wir alle sind nur irgendwo zugestiegen. Vielleicht zerschellen wir an irgendwelchen Stromschnellen, vielleicht purzeln wir einen Wasserfall hinunter, vielleicht versinken wir in der Tiefe. Vielleicht segeln und rudern wir aber auch in das Paradies. Ich weiß es nicht. Das einzige, was ich einigermaßen kann, ist das Boot mit technischen Mitteln und einigen Navigationskünsten in der vermuteten Fahrrinne zu halten.
Also bin ich der ‚Bootslenker‘. Ich hoffe, ich setze das Schiff nicht an den nächsten Felsen.“

Der Bootslenker fährt fort:

„Ok, als Lenker will ich noch einmal an den Anfang dieser Reise zurückerinnern:
Das Suchen im Diesseits und im Jenseits haben wir schon ein wenig betrachtet.
Fest steht, dass wir als Menschen nur im Diesseits aktiv oder auch passiv sein können.

Was im Jenseits ist, wissen wir nicht.

Falls es überhaupt ein Jenseits gibt.

Manche machen sich darüber Gedanken, ob es ein Jenseits gibt und glauben oder phantasieren irgendetwas, was sie dann als ‚Wissen‘ deklarieren. Andere ‚sind‘ einfach hier und im Diesseits und bejahen das. Manche kontemplieren und denken. Manche dösen vor sich hin und warten auf den Tod, ohne es vielleicht zu merken. Manche merken es und nehmen Drogen. Dann geht es schneller. Und ganz andere sind einfach nur doof. Sie schauen TV, begeistern sich für Fußball oder die Formel I, schimpfen auf die Politik, haben Angst, fliehen dorthin, wo sie glauben, dass es ihnen besser geht, essen, trinken, leben gesund, vögeln, kämpfen ums physische Überleben, wieder andere treiben vielleicht ein bisschen Sport oder haben einen Garten und machen Marmelade und warten auf das Altersheim und den Tod. Wobei sie Letzteres natürlich verdrängen. Aber vielleicht sind sie auch nicht doof, sondern tun genau das, was uns Menschen zukommt, was wir können.

Ich als Bootslenker sehe meine derzeitige Situation eher wie folgt:

Ich lebe in der Sonne des Lebens, wie der vorgenannte Schmetterling. Die Sonne scheint um mich herum, auch wenn der Himmel mal trübe und wolkenverhangen ist. Doch hinter und vor mir ist pechschwarze Dunkelheit – so scheint es zumindest.
Auf den ersten Blick ist das ein erschreckender, schrecklicher Gedanke. Ich habe Angst.
Aber sofort schießen mir mehrere Fragen durch den Kopf:
‚Wovor habe ich Angst? Vor der Dunkelheit, die mich umfängt, wenn ich den Tag verlasse und mich in die ewige Nacht nach dem Tode begebe?‘
Aber alle Menschen vor mir sind doch schon diesen Weg gegangen und alle nach mir werden ihn auch gehen!
Das ist zumindest ein kleiner Trost. Ich bin nicht alleine auf dem Weg, auch wenn ich ihn letzten Endes allein gehen muss.
Insofern scheint es auf der Welt eine Gerechtigkeit zu geben, die alle Menschen und organischen Wesen, vielleicht sogar den gesamten Kosmos verbindet.

Oder sehe ich das mit meinem kümmerlichen Verstand nur so? Gibt es mich überhaupt? Aber könnte ich das denken, wenn es mich nicht gäbe? Ok, aber wenn es mich denn gibt, warum denke ich dann an ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘? Gibt es denn überhaupt eine ‚Zeit‘? Oder einen ‚Ort‘, an dem ich mich gerade befinde? Oder bin ich in meinem irdischen Leben nur in der dritten Dimension ‚gefangen‘? Mit der Mathematik kann ich viel höhere Dimensionen berechnen. Und in der ‚Science Fiction‘ kann ich mir in höheren Dimensionen ganz viel vorstellen: Ich kann ‚gleichzeitig‘ an vielen Orten sein, kann das ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ erkunden, kann anderen in die Gedanken schauen, kann Welten entstehen und vergehen sehen.

Aber was bringen mir diese Phantasien? Wozu sind sie tauglich?
Ich möchte mich nach diesem kleinen philosophischen Exkurs und den sich daraus ergebenden Fragen, die ich vielleicht später nochmal vertiefen möchte, wieder an die Grundfrage begeben, die mich ständig wurmt:

‚Kommt nach dem Tode wirklich schwarze, undurchdringliche Nacht, ein Abgrund, in den ich falle, das Nichts? Oder gibt es vielleicht doch noch eine andere Welt, gibt es Arme, die mich auffangen? Gibt es einen schönen Weg, den ich gefahrlos gehen kann?‘
Wie komme ich bei der Beantwortung dieser Frage weiter?“

Der zweite Mitreisende schaltet sich ein:

„Wenn ich auch einmal etwas dazu sagen darf“, beginnt er, „dann ist alles, was ihr bisher von euch gegeben habt – ich darf euch doch duzen, hoffe ich – ein ziemliches ‚Rumgeeiere‘.

Ihr seid zum einen neugierig, und zum anderen habt ihr Angst. Und deshalb seid ihr auf dieses Boot gestiegen.
Andere, die nur im Diesseits leben, denen das Davor und Danach egal ist, die denken ‚nach mir und vor mir war das Nichts und wird wieder das Nichts sein, zumindest, was meine Person betrifft‘, würden ja wohl nicht mit in dieses Boot steigen, denke ich.
Oder vielleicht würden sie auch versuchen, die Suchenden auf diesem Boot zu bekehren und sich bemühen, ihnen klar zu machen, dass es nichts zu suchen gebe, also gewissermaßen ‚anti-missionarisch‘ wirken. Die Menschen sollten sich mit dem Leben im Diesseits zufrieden geben und daraus das Beste machen. Nicht ihre Zeit mit sinnloser Sucherei vertun.
Schließlich gebe es so viel Sinnvolles auf dieser Welt anzupacken, so viele Probleme der derzeit lebenden Menschheit seien zu lösen, dass für Religionen, Philosophie und ähnlichen weltverbesserischen Schnickschnack weder Zeit noch Raum sei. Und die Probleme der Zukunft können nur diejenigen lösen, die in der Zukunft leben. Wir können nur aus der Vergangenheit lernen und – gewissermaßen als Mittler zwischen der Vergangenheit und der Zukunft – mithelfen, die Weichen so zu stellen, dass der Zug der Menschheit zukünftig nicht völlig entgleist. Halb sei er ja schon aus der Spur gekommen.
Und genau daran seien die Religionen schuld. Die Philosophie habe auch nicht weiter geholfen. Lediglich die Erkenntnisse der Naturwissenschaften können weiterhelfen. Und eine ‚Ethik‘ müsse geschaffen werden, die für alle verbindlich sei.“

„Aber ich kann euch versichern“, fährt er fort, „ich will euch nicht bekehren. Ganz so sicher bin ich mir ja auch nicht. Nicht, dass ich wirklich Angst hätte – ob vor unserem Leben oder nach dem Tod unsere Person betreffend etwas war oder sein wird, werden wir ja früh genug erfahren.

Na ja“, bei diesen Worten kratzt er sich am Kopf, „wenn vor unserem Leben etwas gewesen wäre, dann müssten wir das doch eigentlich wissen. Oder hat uns jemand eine Amnäsie verordnet? Forscher haben herausgefunden, dass Säuglinge bereits bei der Geburt und auch schon im Embryonalstadium und sogar davor eine Menge an Genen mitbringen. Wie könnte es auch anders sein? Jedes Tier hat in der Natur seine Gene von den Vorfahren mitbekommen.

Aber was ist in unseren Genen enthalten? Und was lernt der Säugling vor der Geburt und danach erst dazu? Jedes Tier hat einige Instinkte schon von Anfang an mitbekommen, so scheint es, und andere Dinge muss es erst lernen. Und bei uns Menschen scheint es ähnlich zu sein, sagt die relativ neue Wissenschaft der Entwicklungspsychologie. Die Triebe, das ‚Es‘, um mit Freud zu sprechen, sind von Anfang an da. Babys suchen die Brust zum Saugen, schreien, wenn sie Hunger haben oder sich unwohl fühlen, aber das Erkennen der Mutter, das Sprechen oder das Laufen, kommt erst nach und nach.

Aber ist da noch etwas in den Genen? Etwas, was von anderer Art ist? Sind ‚Erfahrungen‘ der Vorfahren in den Genen gespeichert? Von ‚Archetypen‘ spricht C.G. Jung. Haben wir bereits Ängste in uns? Die Fähigkeit, uns gegenseitig zu töten oder zu lieben? Eine ‚Veranlagung‘ zum Mitleid oder zur Rache?
Haben wir gar schon einmal früher gelebt? Angeblich soll es einige Fälle geben, in denen Menschen plötzlich Dinge berichtet haben, die sich in früherer Zeit zugetragen haben und von denen sie nichts wissen konnten, zum Teil haben sie in fremden, alten Sprachen gesprochen, so wird berichtet.
Aber wissenschaftlich exakt bewiesen worden sind solche Dinge seltsamer weise in keinem Falle, soweit es mir bekannt ist. Genau so wenig wie UFO-Landungen.
Und das Vorhandensein einer ‚Seele‘, was immer das sein mag, ist auch noch nie wissenschaftlich bewiesen worden.
Meine Oma hat immer – frei nach Shakespeare – gesagt: ‚Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt.‘

Oh weh“, sagt der zweite Mitreisende. „Ich wollte euch eigentlich ein paar ganz logische Dinge übermitteln, einige Dinge, die ich in mir fühle, und die in mir so klar vorhanden sind, dass sie eigentlich nur herauswollen. Sie schreien geradezu danach.
Aber jetzt fange ich genauso wie ihr an, ‚herumzueiern‘. Schande über mich. Ich habe lange nicht mehr so richtig diskutiert. Mir fehlt wohl die Übung. Es gibt ja leider nur wenige Menschen, mit denen man diskutieren kann, ohne sich von Besserwissern, Oberlehrern, fest überzeugten Atheisten oder ebenso fest überzeugten Gläubigen oder auch Esoterikern oder sonstigen spirituellen Menschen sagen lassen zu müssen, was richtig und was falsch ist. Ich wollte euch einfach nur das, was ich als klar und logisch ansehe, erklären. Doch je klarer sich das, was ich für ‚richtig‘ halte, in mir darstellt, umso schwieriger kann ich das euch vermitteln. Entweder bin ich zu blöde oder zu ungebildet oder rhetorisch zu ungeschickt.
Bitte entschuldigt mein Vorpreschen. Vielleicht kann ich ja später nochmals darauf zurückkommen. Wie mir scheint, kann diese Bootsreise noch eine Weile dauern“.

Der Bootslenker antwortet:

„Vielen Dank. Ich glaube, da sind wir bei einem Hauptproblem angelangt. Das, was wir als ‚klar‘ und ‚logisch‘ oder gar ‚richtig‘ ansehen, ist und war offenbar bei den verschiedensten Menschen ganz unterschiedlich.
Schon seit Aristoteles oder sogar noch länger plagt sich die Menschheit mit diesem Problem herum. Logisches Denken soll z.B. ‚folgerichtiges‘ Denken sein.
Aber was wir unter der ‚Folgerichtigkeit‘ des Denkens zu verstehen haben, ist bereits aus der Sicht vieler Menschen durchaus interpretationsfähig. Denn welches Denken ist schon ‚folgerichtig‘? Was ist überhaupt ‚richtig‘ und was ‚nicht richtig‘ oder gar ‚falsch‘? ‚Richtig‘ ist ja ‚fehlerfrei‘ oder ‚den Regeln entsprechend‘.

Wer legt die Regeln fest?

Nur um einige zu nennen: Waren es Demokrit, Platon, Aristoteles, Laotse, Konfuzius, Augustinus, Paulus, Thomas von Aquin, Cusanus, Descartes, Spinoza, Kant, Voltaire, Hegel, Nietzsche, Feuerbach, Mao, Russell oder die modernen Naturwissenschaftler, die in den verschiedensten Lehrstühlen Dutzende von ‚Logikarten‘ zu erklären und zu analysieren versuchen? Es gibt heute Lehrstühle für ‚Logik und Sprachphilosophie‘, für ‚Logik und Wissenschaftstheorie‘, für ‚Logik in der Informatik‘ usw. Man kann damit also sein Leben verbringen und seinen Lebensunterhalt verdienen.

Wir maßen uns in unserer sogenannten ‚christlich-abendländischen‘ Kultur an, erklären zu können, was ‚folgerichtiges‘ Denken bedeutet. Aber bereits im 6. oder 7. Jahrhundert vor dem Beginn ‚unserer Zeitrechnung‘ schrieb Laotse:
‚Das, was eins ist, ist eins. Das, was nicht eins ist, ist auch eins‘.
Das nennt man übrigens ‚paradoxe Logik‘. Wirft alles über den Haufen, woran unsere Wissenschaftler glauben.

Und wenn man Meister Eckhart liest, sofern man Dokumente von ihm noch uninterpretiert erhält, kommt man von allen ‚logischen‘ Gedanken sehr schnell weg.
Ich bin fast überzeugt davon: Wenn wir auf unserer Bootsreise etwas finden wollen, was uns wirklich weiterführt, dann kann es nicht auf den altgewohnten Pfaden des menschlichen Denkens stattfinden. Aber deshalb sind wir ja von den Wegen ins Boot umgestiegen.“

Carlos

„Gestattet, ich bin Carlos“, meldet sich einer zu Wort, der bisher fast unbeachtet an der Reling gesessen hatte. „Vorhin habe ich etwas von der Ähnlichkeit zwischen den Tieren und den Menschen gehört. Und das beschäftigt mich die ganze Zeit.
Es ist doch wohl so, dass wir Menschen von den Tieren abstammen. Das wird ja heutzutage kaum noch einer bestreiten. Außer vielleicht einigen religiösen Fundamentalisten.
Ich frage mich in diesem Zusammenhang so vieles: Sind wir vielleicht immer noch Tiere, nur eben auf einer höheren Entwicklungsstufe als diese? Sarkastisch könnte man auch manchmal meinen, wir wären auf einer niedrigeren Stufe als manche Tiere. Weil wir drauf und dran sind, mit den Schöpfungen unseres Intellekts (unseres Verstandes möchte ich nicht sagen), unsere eigene Gattung auszurotten. Die Schöpfungen unseres Intellekts sind Waffen, industrielle und technische Errungenschaften, landwirtschaftliche, umweltzerstörende Produkte, politische und religiöse Ideologien, sich bekämpfende Staaten usw. Die ‚Beißhemmung‘, die die meisten Tiere haben, ist bei den Menschen vielfach abhandengekommen.
Bei der Evolution der Menschen haben sich insgesamt offenbar die kriegerischsten, brutalsten Exemplare gegenüber den harmloseren Vertretern der Menschengattung mehrheitlich durchgesetzt. Jedenfalls wurden sie eher die Herrschenden und Reichen als die Sklaven oder die Armen. Die Krieger haben die Denker verdrängt.

Wie dem auch sei: auch ich denke seit einiger Zeit darüber nach, ob die Menschen eine ‚Seele‘ haben. Dabei frage ich mich auch, was eine solche ‚Seele‘ sein könnte.
Die ‚Seele‘ ist ja in unserem Sprachgebrauch sehr präsent: ‚Das tut Leib und Seele gut‘, ‚ich wurde seelisch verletzt‘, ‚ich ging zum Seelendoktor‘, er wurde von ihr wegen ‚seelischer Grausamkeit‘ geschieden, ‚das ist Musik für die Seele‘, ‚die Seele hat den Körper verlassen‘, ‚gut essen und trinken hält Leib und Seele zusammen‘ usw.
Es wird häufig von der ‚Seele‘ gesprochen, aber noch nie hat jemand eine ‚Seele‘ gesehen, sie wurde noch nie vermessen (abgesehen von einigen skurrilen Versuchen, als Todkranke vor ihrem Ableben und dann wieder unmittelbar nach dem Tode gewogen wurden. Wenn sie nach dem Tode weniger wogen, wurde das mit dem Entfliegen der Seele erklärt). Wissenschaftlichen Überprüfungen hat das freilich nie standgehalten. Ebenso wenig überzeugend waren fotografische Aufnahmen mit allen möglichen Filmen, technischen Tricks etc., die die Seele zeigen sollten. Alles negativ.

Also gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir glauben trotz allem an eine Seele, oder nicht. Natürlich können wir auch ‚vielleicht‘ an eine Seele glauben, aber das bedeutet nur genau so viel, als ob man meint, dass man ‚vielleicht‘ einen Menschen liebt, dass man ‚vielleicht‘ gesund sei, dass man ‚vielleicht‘ im kommenden Jahr sterben wird. Das ‚Vielleicht‘ bringt einem beim Denken absolut nichts. Entscheidungen sind gefragt, und wenn sie falsch waren, kann man sie ja später widerrufen.
Ok, ich entscheide mich also dafür, dass es eine Seele gibt. Als junger Mann konnte ich das auch recht leicht begründen. Ich sagte mir einfach, all das, was ich einmal im Leben gedacht und gefühlt habe, kann ja mit meinem Tode nicht ‚verschwinden‘. Es gibt so etwas wie den ‚Energieerhaltungssatz‘ und nichts Gedachtes wird vergehen. Also auch meine Liebe nicht, meine Begeisterung, meine Ängste. Auch wenn der Körper und das Gehirn zerfallen.

Mein ältester Sohn hat mich am vergangenen Wochenende wieder an diese Gedanken erinnert.

Aber ist das wirklich so einfach? Besteht die Seele denn aus ‚Energie‘? Und wenn nicht, woraus besteht sie dann? Was gibt es noch außer Materie und Energie?
Gibt es einen ‚Urgrund‘ der Seele, der allen Seelen gemeinsam ist, aus dem sie kommen und in den sie wieder zurückkehren? Sind die Seelen ein ‚Gemeinschaftsbrei‘, aus dem einzelne Seelen sich individualisieren, in Menschen hineinschlüpfen und aus dem sie nach deren Tod wieder in die ‚Gemeinschaftsseele‘ zurückschlüpfen?
Ich muss zugeben, diese fernöstliche Sichtweise war mir nie angenehm. Ich sehe die Seelen eher als durch und durch individuell. Ich will nicht ewiglich ‚in der Masse schwimmen‘. Aber andere sehen das vielleicht anders und finden ihr Glück dabei.
Nur – was ist wahr? Wer zeigt mir die Wahrheit?
Vielleicht kann ich sie auf diesem Boot finden?“

Nach der kurzen Rede von Carlos herrscht zunächst Schweigen. Dann ergreift der Bootslenker wieder das Wort.

Der Bootslenker fasst zusammen:

„Ich weiß nichts.
Ich suche.

Das waren unsere Prämissen. Und inzwischen haben wir schon mehrere Meinungen gehört. Ich habe von der Dunkelheit der menschlichen Geschichte erzählt, von unserer kurzen Lebenszeit. Ich habe uns mit Insekten verglichen, habe Diesseits und Jenseits ins Spiel gebracht, erstmals nach dem ‚Woher‘ und dem ‚Wohin‘ gefragt.

Unser erster Mitreisender brachte den ‚Verstand‘ ins Gespräch, er sprach vom ‚Glauben‘, der ‚Hoffnung‘ und dem ‚Warten‘.

Daraufhin versuchte ich, die Frage des Glaubens etwas mehr zu vertiefen und zwischen Glauben und Wissen ein wenig abzugrenzen.

Dann aber legte unser erster Mitreisender richtig los: Ganz vorsichtig fragte er nach der Liebe, dann befasste er sich ausführlich mit den Atheisten, die er stark in Frage stellte, wenn ich es recht interpretiere. Nebenbei problematisierte er den Begriff des ‚Bootsführers‘. Seitdem nenne ich mich ‚Bootslenker‘.

Unser Mitreisender stellte dann nur noch Fragen: Nach der Geschichte und der Zukunft der Menschheit, den ethischen Begriffen, dem Denken und der Zukunft der Bildung.
Das war harter Tobak, und ich versuchte, zusammenzufassen und in den Betrachtungen ein wenig weiterzukommen. Die Angst vor der Unklarheit des Jenseits, vor dem Fallen in eine undurchdringliche Nacht ließ mich nicht los.

Da schaltete sich zum Glück der zweite Mitreisende ein: Er schalt uns des ‚Rumeierns‘, sagte, wir seien zum Einen neugierig, und zum Anderen hätten wir nur Angst. Alsdann versuchte er, alles irgendwie miteinander zu verknüpfen, den Glauben und den Unglauben, die Religionen, die Philosophie, die Naturwissenschaften, die Gene, unsere Menschheitsgeschichte, und letztlich stellte er die Frage nach der Seele.
Was ist klar, was ist logisch, was ist richtig? Fragte er. Brauchen wir neue Methoden des Denkens oder ein neues Denken überhaupt?

Und dann kam noch Carlos. Er fragte, ob die Menschen eine Fehlentwicklung der Natur seien. Dann griff er die Problematik der Seele auf, wälzte sie hin und her, fragte nach dem Ob der Seele, ob auch Tiere eine Seele haben, und schließlich stellte er wieder die Frage nach der Wahrheit.

Wie sollen wir weiterkommen?

Als erstes, denke ich, dem Beispiel von Carlos folgend, sollten wir uns alle beim Namen nennen. Ich bin Berndt.“

„Ich bin Michael“, sagte der erste Mitreisende. „Ich nenne mich Klaus“, sagte der zweite Mitreisende.

Julia tritt auf

Plötzlich hob sich ein Kopf, der unter einer großen Kapuze steckte: „Ich bin Julia“, sagte die Frau, die unter dem Umhang mit der Kapuze steckte. „Das ist sehr interessant, was ihr so von euch gebt, aber alles sehr theoretisch. Ich denke, wir sollten vielleicht versuchen, anhand von praktischen Beispielen weiterzukommen.“

„Gerne, nur zu“, murmelten die Männer. „Bitte sage, was dich bewegt“, sagte Berndt.

„Nun gut“, sagte Julia. „Also, ich bin eine mehr oder weniger gläubige Christin. Und in meinem Leben habe ich schon etliche Dinge erlebt, Unfälle usw., bei denen ich eigentlich hätte sterben müssen. Aber irgendeine Stimme hat mir bisher immer gesagt, es sei noch nicht soweit, meine Zeit sei noch nicht gekommen. Ich nenne das, was bisher bei mir war und mich gerettet hat, meinen Schutzengel. Schon meine Mutter und Großmutter haben an den Schutzengel geglaubt. Ich bin mir sicher, dass jeder von euch schon solche Erfahrungen gesammelt hat.

Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum: Mein Schutzengel weinte. Ich kann ihn nicht beschreiben, aber er war da und er weinte. Warum? Ich hatte darüber nachgedacht, Selbstmord zu begehen, wenn ich älter, dement oder krank würde.

Dazu war ich bisher immer fest entschlossen. Vor allem deshalb, weil ich weiß, dass es die Großfamilien in unserer Gesellschaft, die die Alten schützen, kaum noch gibt, und weil ich weiß, wie schlimm es um die professionelle und medizinische Altenpflege in unserer Gesellschaft steht. Eigentlich nichts Schlimmes, dachte ich, schließlich hat uns der liebe Gott den freien Willen gegeben, und egal, was in der Bibel steht, wenn uns der liebe Gott diesen freien Willen gegeben hat, dann können wir den doch auch dafür benutzen, unsere irdische Existenz selbständig zu beenden. Dann müssen wir uns auch nicht wegen jahrtausendealten Vorschriften an unserem Lebensende quälen lassen. So dachte ich bisher.

Aber mein Schutzengel weinte. Ich dachte darüber nach und kam zu folgendem Ergebnis: Gott gab uns den freien Willen, aber auch den Schutzengel. Das heißt doch, dass unser freier Wille dort enden soll, wo eigentlich der Schutzengel eingreifen will und muss. Denn nur Gott bestimmt, wann unser Leben zu Ende sein soll.
Das ist doch logisch. Oder? Was meint ihr dazu? Hat das überhaupt etwas mit unserer Reise zu tun?“

Der Bootslenker Berndt dankt Julia und stellt Fragen

„Vielen Dank, Julia. Endlich mal eine gläubige Christin auf diesem Boot. Natürlich hat auch Dein Schutzengel etwas mit unserer Reise zu tun. Alles, was zu unserem Leben gehört, betrifft uns und auch die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen. Die Frage nach dem Schutzengel ist natürlich legitim. Betrifft sie doch zum einen die Frage danach, ob alles oder vieles vorbestimmt ist, ob es Zufälle oder eine höhere Bestimmung gibt, ob wir einen freien Willen haben usw. und zum anderen die Frage, ob wir unser Leben selbst beenden können oder dürfen oder ob das eine ‚Sünde‘, oder nichtreligiös gesagt, etwas ‚Widernatürliches‘ oder ‚Unethisches‘ ist.

Das ist hochinteressant, und ich freue mich, dass wir auf diesem Boot darüber diskutieren können.

Aber gestatte mir zunächst eine Frage:
Du hast gesagt, dass Du eine ‚mehr oder weniger gläubige Christin‘ seist. Was heißt das? Glaubst Du mal an Christus und mal nicht? Oder glaubst Du nur an einen Teil des Christentums? Wenn ja, dann an welchen und an welchen nicht? Glaubst Du an die Worte der Bibel? An die der Pfarrer oder Priester? Warum sagst Du, dass Du ‚mehr oder weniger‘ glaubst?“

Julia antwortet:

„‘Eine Frage‘, hast Du gesagt. Dabei waren es ganz viele Fragen! So leicht gehe ich Dir nicht auf den Leim! Aber ich will Dir gerne antworten, so gut ich kann. Und ich hoffe, dass ich mir dabei nicht selbst widerspreche.

Ich bin lutherisch-evangelisch. Also Protestantin, wie es so schön heißt. Ich glaube an das, was in der Bibel steht, an das Alte, vor allem aber an das Neue Testament. Aber ich glaube es nicht wörtlich, sondern nur sinngemäß. Vieles, was darin steht, ist, so sagt es unsere Pfarrerin auch, nur symbolisch zu verstehen. Die Texte der Bibel wurden ja von ganz unterschiedlichen Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeiten verfasst. Natürlich von Männern, von alten dazu. Die Bibel ist ein Sammelsurium von Texten, die zum Teil jahrhundertelang verschollen waren, aus verschiedenen Sprachen in andere Sprachen übersetzt wurden, und bei denen wirklich vieles nicht wörtlich genommen werden darf.
Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn war oder ist, dass er für alle Menschen am Kreuz gestorben ist und wieder auferstand. Dass Christus gelebt hat, ist ja wohl auch geschichtlich bewiesen.

Ich glaube daran, dass gute Taten später einmal belohnt und schlechte bestraft werden. Also versuche ich, möglichst viel ‚Gutes‘ zu tun. Soweit ich das kann, natürlich. Da bin ich ganz ehrlich.
Ich glaube nicht an irgendwelche Heiligen, nicht an die sogenannte ‚Gottesmutter‘, nicht an die Sündenvergebung durch Geld an die Kirche, nicht an die sogenannten ‚Sakramente‘, also die Heiligkeit der Ehe, die Beichte beim Pfarrer und solchen Humbug. Auch nicht an die Unfehlbarkeit des Papstes. Ich glaube auch nicht an ‚Teufelsaustreibungen‘ und irgendwelche göttlichen ‚Wunder‘.
Das ist so ungefähr, woran ich glaube. Im Einzelfall muss ich halt Spezialisten befragen, unsere Pfarrerin z.B.“

Berndt fragt noch einmal nach:

„Liebe Julia, vielen Dank für deine Antwort. Ich denke, dass viele Menschen das ganz anders sehen als du, aber andere sicherlich ebenso wie du.

Jeder Mensch hat wohl seinen eigenen Glauben. Und andere haben auch ihren eigenen ‚Nicht-Glauben‘.

Mit würden zu dem, was Du gesagt hast, hunderte weitere Fragen einfallen, aber das wäre zu kompliziert. Wir sind ja beide keine Philosophen und vor allem keine Theologen. Wir wissen beide nicht, was von dem, was in der Bibel zu lesen ist, wahr ist und was nicht. Niemand weiß das, selbst Deine Pfarrerin nicht und auch nicht der Papst.
Es ist halt eine Frage des Glaubens. Und ich danke dir, dass du dich zu deinem Gottesglauben, oder besser ‚Christusglauben‘ bekannt hast. Denn wenn du den geschichtlich bewiesenen Christus als ‚Gottes Sohn‘ bezeichnest, dann musst du ja auch gleichzeitig an Gott glauben. Das ist doch richtig, oder? Aber an die ‚Gottesmutter‘ glaubst du nicht, sagst du. Aber Jesus, musste ja, wenn er eine geschichtlich bewiesene Figur war, auch eine Mutter haben? Oder sehe ich das falsch?“

Julia antwortet:

„Da hast du mich zum Teil missverstanden. Natürlich glaube ich an Gott als den Vater von Jesus Christus. Das ist ja wohl die Grundlage des christlichen Glaubens.
Und natürlich hat Christus eine Mutter gehabt, die Maria. Aber sie war eben nichts Besonderes, nichts, was wir anbeten müssten. Sie war eben nur eine Frau aus dem Volk, die aus irgendeinem Grund, den wir nicht verstehen können, ausgewählt wurde, die Mutter von Jesus Christus zu sein. Aber ‚anbeten‘ dürfen wir ja nur Gott. So steht es im ersten Gebot, wenn ich mich recht erinnere.“

Berndt erwidert:

„Du hast ganz Recht. Maria dürfen wir eigentlich nicht anbeten. Zumindest nicht als ‚Göttin‘. Anbeten dürfen wir nur Gott. Auf jeden Fall gilt das für die gläubigen Juden. Und die Christen dürfen natürlich auch Jesus Christus anbeten. Denn er ist ja so wie Gott auch, denke ich. Und dann gibt es ja noch den Heiligen Geist.

Aber Maria können wir ja als ‚Vermittlerin‘ anrufen, die bei Gott ein gutes Wort für uns Sünder einlegen kann. Oder?“

Julia antwortet:

„Das ist mir jetzt wirklich zu kompliziert. Ich bin evangelisch. Und mit dem ‚Marienkult‘ haben wir nichts am Hut. Wenn ich zu Gott beten will, dann kann ich das direkt tun. Und um Vergebung meiner Sünden bitten. Oder auch bei Jesus; denn er ist Gottes Sohn und sitzt, wie es heißt ‚zu seiner Rechten‘. Dafür brauche ich keine ‚Mutter Maria‘.
Aber warum versuchst du mich ständig in die Enge zu treiben? Dieses Gespräch gefällt mir langsam nicht mehr. Bist du katholisch und willst mich bekehren?“

Berndt entschuldigt sich

„Es tut mir leid, liebe Julia. Ich wollte dich nicht in die Enge treiben und auch deinen Glauben nicht hinterfragen. Das steht mir nicht zu. Du bist evangelische Christin und hast uns dankenswerterweise einen Einblick in deinen Glauben gewährt.

Und, wenn ich mich recht erinnere, hattest du uns anderen eigentlich eine Frage gestellt, zu der wir bisher noch keine Stellung bezogen haben. Du hast etwas von deinem weinenden Schutzengel gesagt und gefragt, ob nur Gott bestimmen kann oder darf, wann unser irdisches Leben zu Ende sein soll. Ob also bei der Frage des Selbstmordes unser freier Wille endet.

Ich fühle mich dabei im Moment überfordert. Wer kann helfen?“

Carlos spricht

„Hier sind wir doch schon wieder bei einer Definitionsfrage angelangt“, sagt er. „Julia hat wie selbstverständlich vom ‚freien Willen‘ gesprochen. Haben wir denn einen solchen ‚freien Willen‘?

Julia sprach davon, dass es unser freier Wille sei, Selbstmord begehen zu können. Und sie sprach davon, wie sollten uns an praktischen Dingen orientieren. Nun gut, fragen wir praktisch: Wie viele Menschen, die völlig verzweifelt sind oder krank oder traurig, haben versucht, sich umzubringen, aber es ist ihnen nicht gelungen? Der Strick ist gerissen, das Medikament war zu schwach, ein Retter sprang ins Wasser hinterher oder hat den Selbstmörder von der Brücke weggezerrt oder vom Dach geholt, Ärzte haben dem Halbtoten gerade noch rechtzeitig den Magen ausgepumpt, der Lokführer konnte noch rechtzeitig bremsen usw.

In solchen Fällen wurden die potentiellen Selbstmörder also von außen daran gehindert, Selbstmord zu begehen. Sie hatten zwar den Willen, zu sterben, durften es aber nicht.
Gläubige könnten jetzt sagen: ‚Ihr Schutzengel hat ihnen geholfen‘, ‚Gott hat es nicht gewollt‘.

Aha: Der ‚freie Wille‘ war demnach gar nicht so frei. Er endete demnach dort, wo Gott eingriff. Oder?

Aber was ist dann mit denen, bei denen der Selbstmord geklappt hat? Damit war dann Gott wohl einverstanden. Oder? Aber wenn Gott es wollte, hätte es ja gar nicht des ‚freien Willens‘ des Selbstmörders bedurft. Dann hätte er ja den Menschen auch so holen können.

Ist alles vielleicht vorbestimmt? Wenn ich mir die Pistole an den Kopf halte und abdrücke, ist das dann mein freier Wille? Oder ist es Bestimmung? Und wenn ich nicht abdrücke und die Pistole wieder weg lege, ist das mein freier Wille oder Vorbestimmung?

Wer an Gott glaubt, kann diesem Gott letztlich alles unterjubeln. ‚Es ist alles Gottes Wille‘, sagen manche. Man kann morden, vergewaltigen, foltern, ich selbst bin ja nicht dafür verantwortlich. Es ist alles Gottes Wille. Oder?

Wenn es keinen freien Willen gibt, dann bin ich ja an nichts schuld. Nur Gott ist schuld.
Liebe Julia, du sprachst von dem ‚freien Willen‘. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr frage ich: Haben wir wirklich einen freien Willen? Oder ist alles nur vorbestimmt? Irgendwie dreht sich alles im Kreise in meinem Kopf.“

Michael versucht zu vermitteln

„Ich bin ja für meine Kritik bekannt“, sagt er. „Aber dieses Gerede vom ‚freien Willen‘ und der ‚Schuld‘ geht mir wirklich auf den Geist. Damit haben sich so viele Philosophen befasst, und ihr glaubt, diesen Fragen mit sogenannten ‚praktischen Überlegungen‘ näher zu kommen. Glaubt mir, so einfach ist das nicht. Befasst euch zum Beispiel mit Dostojewski oder Kierkegaard. Die haben ganze Bücher darüber geschrieben.

Es geht doch um so viele Fragen:

• Gibt es eine Schöpfung, oder ist alles nur Zufall?
• Falls alles nur Zufall ist, warum ist das so?
• Können wir an den Verläufen etwas ändern?
• Falls es eine Schöpfung gibt, gibt es dann auch einen Schöpfer?
• Gibt es Raum und Zeit?
• Falls es Raum und Zeit gibt, gibt es auch etwas außerhalb des Raumes und außerhalb der Zeit?
• Gibt es etwas ‚davor‘ und ‚danach‘ und ‚außerhalb‘?
• Falls es etwas ‚davor‘ und ‚danach‘ oder ‚außerhalb‘ gibt, was könnte das sein? Gibt es irgendwelche erkennbare Hinweise dafür oder können wir das mit unserem Verstand ergründen?
• Gibt es Materie? Gibt es eine ‚Dunkle Materie‘? Falls ja, was ist das? Oder ist alles Energie? Falls ja, was ist das? Gibt es ‚Leere‘? Gibt es ein ‚Nichts‘?
• Gibt es überhaupt ‚etwas‘? Oder bilden wir uns alles nur ein? Aber wenn wir uns etwas einbilden, dann muss es ja zumindest ‚uns‘ geben, sonst könnten wir uns ja nichts einbilden. (So sieht es Descartes).
• Aber falls es uns tatsächlich gibt, was sind wir? Sind wir nur eine besondere Art von Tieren oder etwas Besonderes?
• Was bedeutet ‚Leben‘ überhaupt? Gibt es ein Gegenteil von ‚Leben‘? Leben auch Steine? Lebt das Wasser?
• Was bedeutet ‚Tod‘? Gibt es einen Tod? Ist er nur ‚Abwesenheit von Leben‘? Oder etwas anderes?
• Was kommt nach dem Tod? Kommt nach dem Tod das ‚Nichts‘ oder etwas anderes? Wie können wir das erfahren?
• Falls etwas anderes kommt, was ist das? Sind die Wesen, die vor uns gelebt haben, noch da? Und die, die nach uns kommen, vielleicht schon da?
• Oder stammt alles Leben nur aus einer ‚Ursuppe‘, aus der alles herauskommt, und in die alles wieder verschwindet?
• Gibt es sogenannte ‚Inkarnationen‘?
• Haben wir einen freien Willen? Können wir überhaupt etwas ‚wollen‘?
• Falls es einen Gott gibt, hat er alles vorbestimmt? Oder experimentiert er nur? Ist er ein Spieler? Oder hat er einen Feind, den Teufel? Ist er mächtiger als das Böse oder nicht? Ist Gott wirklich allmächtig? Warum gibt es dann das Böse? Oder gibt es gar kein Böses? Ist alles gut? Auch das, was wir mit unserem beschränkten Menschenverstand als ‚böse‘ empfinden?
• Gibt es überhaupt ‚Werte‘? Was sind ‚Werte‘?
• Gibt es ‚Sünde‘ oder ‚Schuld‘? Oder wird uns das nur eingeredet?
• Woher kommt das ‚Gewissen‘? Ist das eine Einbildung, etwas Anerzogenes oder etwas, das aus der Erfahrung stammt? Falls es ein Gewissen gibt, haben alle Menschen ein solches oder nicht? Falls nicht, warum haben manche kein Gewissen? Sind sie böse, verkümmert, unterentwickelt oder krank?
• Falls es Gott gibt: Sind wir seine Kinder? Oder sind wir seine Ebenbilder? Sind wir selbst Gott? Oder können wir es werden? Was war mit Jesus? War dieser Gottes Sohn oder nur ein Prophet? Oder ein Scharlatan? Was bedeutet ‚Gott‘ überhaupt?
• Was bedeutet die ‚Seele‘ (darüber haben wir ja schon gesprochen). Aber mir ist immer noch nicht klar, was die ‚Seele‘ denn sein soll. Trennt sich die Seele vom Körper? Wo ‚fliegt sie hin‘?
• Haben auch Tiere oder Pflanzen oder Steine eine Seele?
• Die Wahrheit ist ja bekanntermaßen etwas, das wir mit unseren Sinnen erkennen können, etwas, das uns ‚logisch‘ erscheint (über die Probleme der ‚Logik‘ haben wir allerdings schon gesprochen). Das, was nicht wahr ist, ist also unwahr, oder? Oder gibt es viele ‚Wahrheiten‘, je nach Blickpunkt?
• Was ist aber die Wirklichkeit, die Realität? Gibt es überhaupt eine Realität oder gibt es viele Realitäten?
• Gibt es neben der Realität, dem Universum, das wir zu sehen glauben, noch mehrere, andere, Paralleluniversen, die uns verschlossen sind, über die wir aber nachdenken können?
• Können uns die Mathematik und die Wissenschaften überzeugende Antworten auf all diese Fragen geben? Oder stoßen die Wissenschaften immer mehr an Grenzen, die sie nicht überwinden können? Warum tauchen nach einer angeblich ‚wissenschaftlich bewiesenen‘ Sache dutzende neue Fragen auf?
• Gibt es eine Lösung für all diese Fragen? Und falls ja, wo können wir die finden? In diesem Leben oder erst danach?

Entschuldigt diesen Monolog. Das war jetzt erstmal das, was mir so spontan einfiel. Es sind einfach nur Fragen über Fragen…“

Klaus gibt Antworten

„Ich weiß, dass wir nichts wirklich wissen. Aber dennoch haben wir einen Verstand, und so können wir darüber nachdenken, was sein könnte. Entweder ist das Ergebnis dann falsch oder richtig oder nur zu einem gewissen Teil falsch oder richtig.

Ich benutze meinen Verstand teilweise rational, teilweise aber auch intuitiv. Dabei sind mir die bei uns akzeptierten Gesetze der Logik nicht so wichtig.

Wenn wir uns die Welt anschauen, dann sehen wir, dass unsere den Gesetzen der Logik und der Mathematik folgenden Naturwissenschaften immer stärker zur Zerstörung der Welt und der Lebensformen darauf beitragen. Das kann nicht ‚gut‘ sein, mir sträubt sich bei dem Denken daran alles. Meine Seele schreit, könnte ich auch sagen.

Daraus folgt für mich, dass die Naturwissenschaften nur sehr bedingt dafür taugen, diese Welt zu erklären. Abgesehen davon geben ja auch viele Wissenschaftler zu, dass sich bei einem ‚gelösten‘ Problem sofort ein Dutzend neue, ungelöste, ergeben.
Weil uns aber die Naturwissenschaften keine Erklärungen geben können, müssen wir woanders suchen. Doch das ist sehr gefährlich. Esoterische Spinner und Verschwörungstheoretiker warten nur darauf, alles zu ‚erklären‘. Und immer mehr Menschen fallen auf solche Scharlatane herein.

Und jetzt komme ich zu den Fragen, die Michael gestellt hat. Ich will versuchen, wenigstens die ersten davon, so gut es geht, aus meiner Sicht zu beantworten. Mit dem Stellen von Fragen allein kommen wir nicht weiter. Ich jedenfalls möchte nicht sterben und dabei denken: ‚Ich habe mein Leben lang immer nur Fragen gestellt, aber nichts verstanden. Ich habe Gutes tun wollen, aber nichts getan, weil ich nicht wusste, was Gutes ist‘.

Ich denke und glaube also, dass

• es eine Schöpfung gibt. Das muss nicht ausschließen, dass es hier und da auch ‚Zufälle‘ geben mag und auch nicht, ob wir an den Verläufen etwas ändern können. Es hängt davon ab, wie ‚festgelegt‘ die Schöpfung ist. Aber auch das wissen wir natürlich nicht.
• Es einen Schöpfer gibt. Für mich ist das Gott. Der eine, der einzige Gott. Es gibt keine anderen ‚Götter‘ neben ihm. Aber es gibt viele Bezeichnungen für diesen Gott.
• Es Raum und Zeit nur im Diesseits, nur aus unserer Sicht, gibt. Gott hat uns Raum und Zeit nur als Orientierungshilfe für das Diesseits gegeben.

In Wirklichkeit gibt es kein ‚War‘ und ‚Wird sein‘. Alles ‚ist‘. Ich weiß, dass das für uns Lebende kaum vorstellbar ist. Wir kennen ja z.B. die Saurierknochen, und unsere Ahnen sind auch schon lange ‚weg‘, zumindest ihre Körper (außer vielleicht bei einigen alten Mumien). Aber könnte nicht dennoch alles ‚gleichzeitig‘ ‚sein‘? Stellen wir uns ein breites Band vor, das zusammengenäht, also ‚rund‘ ist. Und markieren wir auf diesem ganz viele Stellen als Punkte in zwei Farben, die einen blau und die anderen rot. Die Roten sind ‚außen‘ und die blauen ‚innen‘. Dann nehmen wir das Band in die Hände und verdrehen es. Mit der rechten Hand ein wenig nach rechts und mit der linken ein wenig nach links. Schon haben wir eine verdrehte Schlinge. Und plötzlich sind die ‚Innenpunkte‘ außen und die ‚Außenpunkte‘ innen.

Beide Farben sind nun ‚gleichzeitig‘ ‚innen‘ und ‚außen‘.

Ich weiß, das ist kein ‚Beweis‘ dafür, dass es keinen Raum und keine Zeit gibt. Aber es zeigt dennoch, dass unsere subjektive Sicht zu fehlerhaften Ergebnissen führt.

Eine weitere Möglichkeit bieten unsere Träume. Wir träumen uns manchmal an irgendeinen Platz und reden mit Menschen, die eigentlich schon ‚tot‘ sind. In unseren Träumen sind Raum und Zeit offenbar unerheblich.

Hier sind wir wieder an dem Problem von ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘. Unsere Träume sind gewiss nicht ‚unwahr‘; denn im Traum lügen wir ja nicht. Aber sind unsere Träume auch ‚wirklich‘?

‚Nein‘, sagen die Rationalisten. ‚Träume‘ sind nicht real, sondern ‚nur‘ geträumt. Aber wie können die Realisten so sicher sein? Könnte es nicht sein, dass unsere ‚Realität‘, die wir im sogenannten ‚wachen‘ Zustand erleben, ‚unwirklich‘ ist, und die Welt, die wir im Traum erleben, die ‚richtige‘ ist?

Aber das nur am Rande.

Im Übrigen können wir uns auch im ‚wachen‘ Zustand, wenn wir wollen, an jeden beliebigen Ort und in jede beliebige Zeit hineinversetzen. Wir können sogar im Binnenland das Meer ‚riechen‘ und die Stimme eines Menschen, sei er lebend oder tot, ‚hören‘. Ist das wirklich alles ‚unwirklich‘?

Aber wie ist das mit den ‚Saurierknochen‘? Die sind doch da und nicht wegzuleugnen. Und die Saurier sind weg. Oder? Hüpfen sie vielleicht noch in einer anderen Dimension herum, die aber nicht unsere Dimension ist? Und könnte es nicht sein, dass Gott, wenn es ihn gäbe und wenn es für ihn keinen Raum und keine Zeit gäbe, zwischen den Sauriern und den Saurierknochen sich ‚bewegen‘ könnte? Und können wir das vielleicht auch einmal, wenn wir ‚tot‘ und nicht mehr an ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ gebunden sind? Wir wissen es nicht.

 Alternativ können wir auch ‚ganz rational‘ davon ausgehen, dass es keinen Gott, keinen Schöpfer, gibt und Raum und Zeit ‚real‘ sind.

Aber was soll das? Der Kosmos ist aus ‚Nichts‘ entstanden? Das Leben hat sich ‚selbstständig‘ aus einer ‚Ursuppe‘ entwickelt? Am Anfang gab es einen ‚Urknall‘? Davor war ‚irgendetwas‘? Am ‚Ende‘ wird alles wieder ‚verschwinden‘? In der Unendlichkeit? Oder sich ‚auflösen‘? Und neben dem Kosmos gibt es vielleicht andere ‚Kosmosse‘? Niemand steuert, niemand lenkt? Es gibt nur ‚Zufälle‘ oder ‚Naturgesetze‘? Oder ein ‚Chaos‘?

Lieber Gott, in einer solch ‚rationalen‘ Welt möchte ich nicht leben.

• Weil ich somit denke und glaube, dass es in Wirklichkeit weder Raum noch Zeit gibt, erübrigen sich die Fragen nach ‚davor‘, ‚danach‘ und ‚außerhalb‘. Alles ‚ist‘“.

Klaus fährt fort:

„Das ist ja nur der Anfang. Wenn es in Wirklichkeit weder Raum noch Zeit gibt, erübrigen sich auch die Fragen nach ‚davor‘ und ‚danach‘ und ‚außerhalb‘.

Alles ist.

Und auch die Frage nach der ‚Dunklen Materie‘, nach ‚Materie und Energie‘ kann uns ziemlich egal sein. Wenn Gott alles erschaffen hat, dann ist alles eben so, wie es ist.
Und die ‚Cartesische Frage‘ kann uns auch nicht irritieren. Wir sind nicht, weil wir denken, sondern weil Gott uns geschaffen hat. Und er hat uns eben als ‚Denkende‘ geschaffen.

Die Frage, ob wir eine ‚besondere Art von Tieren‘ seien, stellt sich nicht. Gott hat uns als Menschen, und die Tiere als Tiere geschaffen. Es ist müßig, irgendwelche ‚Unterschiede‘ zu analysieren. Jedem ist klar, was ein Tier und was ein Mensch ist. Die Primaten, die uns am nächsten kommen, sind Affen und keine Menschen. Wer hat in den Jahrhunderten, in denen die Welt erforscht wurde, jemals einen vernünftigen Zweifel daran gehabt, ob die Angehörigen der entdeckten Spezies ‚Affen‘ oder ‚Menschen‘ waren?

Wie wir mit den Tieren umgehen, ist eine ganz andere, eine ethische Frage. Und da sieht es momentan sehr übel aus; denn Gott hat uns Menschen bestimmt nicht den Auftrag gegeben, die Tiere und die Lebensgrundlagen für diese (und für uns) zu vernichten.
Was uns unklar ist, ist ab ‚wann‘ Gott die Menschen gemacht und von den Tieren getrennt hat. Funde deuten auf eine viel längere Zeit hin, als man früher dachte Es mag so etwa eine Million Jahre her sein.

Aber wenn wir uns die ‚Zeit‘ wegdenken, ist auch das ziemlich egal. Gott hat uns ja das Gefühl für die Zeit nur gegeben, damit wir im ‚Diesseits‘ besser zurecht kommen.

Worauf es ankommt, ist nur, dass uns Gott als Menschen geschaffen hat. Und dafür sollten wir dankbar sein und ihn loben. Ob es ‚Leben‘ und ‚Tod‘ gibt, ist unerheblich. Alles ist.

Mit ‚Inkarnationen‘ brauchen wir uns auch nicht zu befassen. Ohne ‚Zeit‘ bedarf es keiner solcher Konstrukte.

Sehr unklar ist für mich die Frage nach dem ‘Freien Willen‘. Hier geht es ums Ganze. Was will Gott von uns? Ich kann mir das nur mit der Bekämpfung und der Überwindung des ‚Bösen‘ erklären.

Ist Gott ‚gut‘ oder ‚böse‘? Oder beides nebeneinander? Und hat er uns wie seinesgleichen gemacht, nur ein wenig kleiner? Und vergänglich? Im Gegensatz zu ihm, der unvergänglich, ewig, ist. Warum haben wir diesen lästigen, vergänglichen Körper mit seinen Bedürfnissen?

Gibt es noch einen zweiten Gott, einen Rivalen zum ‚guten Gott‘, der uns verführen will? Braucht Gott uns als seine Helfer, um diesen Rivalen zu besiegen?
Ich gebe zu, dieser Gedanke ist sehr reizvoll: Wir als Gehilfen des lieben Gottes.

Jetzt bin ich müde. Lasst uns morgen weiter diskutieren.“

Berndt fragt nach:

„Lieber Klaus, ganz vielen Dank für Deine Worte. Sie klingen sehr aufregend. Fast schon hört es sich an wie eine ‚Lösung‘. Denn es klingt, als ob Du letztlich alle ‚Erkenntnisse‘ des aufgeklärten Menschen in Frage stellst. Du lehnst offenbar eine ‚rationale Welt‘ ab, die Du mit wenigen Worten demontierst.

Ist denn seit Aristoteles alles nicht mehr wahr? Sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaft Unfug? Die Newtonschen Gesetze, die Relativitätstheorie, die Quantenphysik?

Verrennst Du Dich jetzt nicht ein wenig? Raus aus der Wissenschaft und hinein in einen mystischen ‚Spekulationsglauben‘?

Ist das nicht reine Esoterik? Genau das, was wir auf dieser Bootsreise eigentlich nicht haben wollen? Klaus, bei allem Respekt vor der Schärfe Deines Denkens, wir können doch nicht im Ernst Raum und Zeit ablehnen. Oder? Und die Menschen zu ‚Gehilfen‘ Gottes machen, bei dem Kampf gegen ‚das Böse‘? Ich gestehe, da komme ich nicht mehr ganz mit!“

Klaus antwortet:

„Danke für Deine Geduld, für Eure Geduld. Zugegeben, es ist sehr schwierig, das in Worte zu fassen, was mir durch den Kopf geht. Es ist so viel und auch sehr kompliziert.
Zunächst noch einmal zu Deiner Frage, ob alles seit Aristoteles nicht mehr ‚wahr‘ sei. Nein, natürlich ist es ‚wahr‘; denn die Naturwissenschaftler lügen ja nicht (jedenfalls meistens). Alle ‚aufgeklärten‘ Menschen denken, dass das, was die Wissenschaften erklären, nicht nur ‚wahr‘ sondern auch ‚richtig‘ sei.

Bitte entschuldigt meine Definitionsversuche. Über das, was ‚wahr‘ oder ‚nicht wahr‘ und was ‚richtig‘ oder ‚nicht richtig‘ ist, sind schon viele Bücher geschrieben worden. Wissenschaftler und Philosophen haben sich mit diesen Begriffen befasst. Es gibt so viele Erklärungen.

Ich sage nochmals: ‚Wahr‘ ist für mich all das, was wir als ‚wahr‘ ansehen. ‚Richtig‘ ist für mich hingegen das, was ‚ist‘, wobei es nicht darauf ankommt, ob wir das als ‚wahr‘ oder ‚unwahr‘ ansehen, ob es für uns ‚logisch‘ oder ‚unlogisch‘ ist. Ich glaube also an eine ‚Richtigkeit‘, an eine ‚Wirklichkeit‘, die unabhängig von unserem Denken und unseren Empfindungen ist. Das ist gewissermaßen die ‚absolute‘, die ‚göttliche‘ Wirklichkeit oder Richtigkeit.

Wir leben hier und jetzt. In unseren Körpern. Aber das ist nur ein von uns so empfundener Umstand. Was ‚wirklich‘ ist, können (und sollen wir wohl) nicht wissen. In Wirklichkeit (nicht: in ‚Wahrheit‘) gibt es kein ‚hier‘ und ‚jetzt‘, weil es keinen Raum und keine Zeit gibt.

Ich weiß, lieber Bootslenker Berndt, lieber Michael, lieber Carlos, liebe Julia, dass ich damit Eure Geduld sehr strapaziere, aber ich ‚weiß‘ ja nichts. Ich denke und glaube. Und ich denke, dass es vielleicht so sein könnte.

Vielleicht sind alle unsere sogenannten ‚Erkenntnisse‘, unsere Naturwissenschaften und die ihnen zugrunde liegenden ‚Gesetze der Mathematik‘ zwar ‚wahr‘, aber eben nicht unbedingt ‚richtig‘. Vielleicht erklären sie uns das ‚Diesseits‘, auch die ‚Historie‘ unseres Diesseits, aber eben niemals das ‚Ganze‘.

Ich frage mich eben, ob es vielleicht nicht noch ein ‚Anderes‘ gibt.

Und ich habe festgestellt, dass unser Denken, wenn es einmal die Fesseln von Raum und Zeit abgelegt hat, wunderbar frei wird, dass sich uns ganz neue Dimensionen erschließen.

Na klar, dieses Denken ist mystisch und beinhaltet viele Gefahren. Wie schnell kann man anfangen, zu spinnen und in die Esoterik abgleiten. Dessen bin ich mir bewusst, und darum bin ich sehr froh, dass Ihr bei mir seid.

Wenn ich also noch einmal zusammenfassen darf: Von Michaels Frageliste ausgehend, habe ich versucht, einige mögliche Antworten zu finden und bin zuletzt bei der Frage von dem ‚guten‘ oder dem ‚bösen‘ Gott angelangt. Und was unsere Aufgabe dabei ist? Gibt es eine Aufgabe für uns?

Die nächsten Frage nach Michaels Liste wären: Gibt es ‚Werte‘? Gibt es ‚Schuld‘ und ‚Sünde‘?“

Michael bittet um Entschuldigung

„Lieber Klaus, lieber Berndt, auch bei Dir, Carlos und bei Dir, Julia, bitte ich um Vergebung für meine sogenannte ‚Liste‘.

Wenn ich mich recht erinnere, ging es vorher um den ‚freien Willen‘ und die Frage der ‚Schuld‘. Ich habe nur daran erinnern wollen, dass wir diesen Problemen nicht mit ‚praktischen Beispielen‘ beikommen können. Noch keinem der bisherigen Philosophen, Theologen oder Schriftsteller ist es gelungen, diese Probleme zu lösen. Hierfür wären allgemeine Antworten nötig, die es aber ganz offenbar nicht gibt.

Und dann zählte ich – nur beispielhaft – ganz viele Fragen auf, die aus meiner Sicht bisher unbeantwortet sind. Es ist mir klar, dass diese spontan gestellten Fragen von unterschiedlichem Gewicht sind und sich zum Teil auch überschneiden.

Wenn jetzt Klaus beginnt, diese ‚Frageliste‘ Punkt für Punkt abzuarbeiten, dann bekomme ich ein ganz seltsames Gefühl. Ich fühle mich schuldig; denn ich wollte dieses Gespräch nicht dominieren und in eine bestimmte Richtung bringen. Wer bin ich, dass ich mit meiner Frageliste die Probleme der gesamten Welt, des Universums und der Schöpfung insgesamt aufzählen und erfassen könnte?

Ich finde die Argumente von Klaus sehr interessant und scharfsinnig, aber – mit Verlaub – auch hier und da ein wenig flach.

Vom ‚guten oder bösen‘ Gott kommt er zu der Überlegung, ob die Menschen vielleicht Gehilfen Gottes bei der Bekämpfung des Satans sein könnten. ‚Satan‘ hat er zwar nicht explizit gesagt, wenn ich mich recht erinnere, aber es war so gemeint, denke ich.
Dann war er müde, was ich nach solch komplizierten Ausführungen gut verstehe.
Und nach einem Einwand von unserem Bootslenker hat er dann am nächsten Tag die ‚Wahrheit‘ und die ‚Wirklichkeit‘ problematisiert und seine ganz persönliche Kurzdefinition dazu gegeben.

Weiterhin gibt es nach seiner Auffassung weder Raum noch Zeit; das scheinen alles Erfindungen ‚Gottes‘ zu sein, um den Menschen das Leben zu erleichtern. So ähnlich habe ich das verstanden.

Und dann gipfelte es in der Frage, ob es neben dem ‚Diesseits‘ und dem ‚Jenseits‘ noch ein ‚Anderes‘ gebe. Was immer das sein soll.

Jetzt soll es im Eilverfahren zu ‚Schuld‘ und ‚Sühne‘ gehen.
Wobei wir dann bei Dostojewski wären…

Lieber Klaus, bei allem Respekt, so kann das doch nicht gehen. Du hast selbst gesagt, dass du froh bist, dass wir anderen auch da sind. Ich habe den Eindruck, wir müssten erst einmal alle tief Luft holen.

Niemand von uns scheint momentan irgendwie weiter zu kommen. Vielleicht hätte ich meine ‚Frageliste‘ niemals erwähnen sollen.“

Berndt ergreift das Wort

„Ich glaube, wir sind an einem toten Punkt angelangt. Vielleicht sollten wir unsere Bootsfahrt abbrechen. Alle haben gesagt, was sie denken, glauben und fühlen. Jedenfalls so ungefähr. Wenn ich es recht sehe, sind dabei letztlich nur Fragen herausgekommen.
Aber wir haben ja von Anfang an gesagt, dass wir nichts wissen und dass wir suchen.
Was wollen wir denn in diesem Boot? Es gibt keine Antworten, nur Vermutungen und Behauptungen. Wir reden uns miteinander die Köpfe heiß. Aber es bringt nichts.
Ich fühle mich ganz elend. Warum? Ich war wohl von Anfang an nicht ganz aufrichtig. Ich habe euch alle zu dieser Reise eingeladen. Warum? Was soll diese Reise bringen?
Kann mir jemand helfen?“

Der Vermummte vom Bootsrand redet

„Ihr könnt mich alle für einen Fanatiker halten. Mein Name tut nichts zur Sache. Ich bin ein Einsamer. Ich bin eigentlich nur in dieses Boot gestiegen, um zuzuhören.

Aber, nachdem hier alles zum Stillstand kommt, will ich doch ein paar Worte sagen.
Ich glaube, dass ich ab und zu traumähnliche Visionen habe. Und dann glaube ich, Gott sprechen zu hören. – Ja, Ihr könnt darüber lächeln. Ist mir egal.

In einem meiner Träume sagte Gott zu mir: ‚Ohne das Böse kann es kein Gutes geben. Ohne den Zweifel gibt es keinen Glauben. Ich will, dass die Menschen sich aus Überzeugung, aus freiem Willen, zu mir, zu dem Guten, zur Liebe und nicht zum Hass und zum Egoismus bekennen. Erst durch die Überwindung des Bösen, des Satans, kann ein Mensch wirklich gläubig lieben und edel werden.

Also braucht es das Böse, den Satan, um letztlich Gutes tun zu können.

Und warum wurde Hiob, der Gerechte, so gequält, fragen manche?

Gerade diejenigen, die glauben, gut und edel zu sein, müssen die härtesten Prüfungen bestehen.Vom Satan lasse ich mich nicht bequatschen und mir nichts einreden. Meine Prüfungen denke ich mir selbst aus; denn ich bin Gott.
Aber ich habe dem Satan große Macht gegeben; denn ohne den Filter des Bösen kann ich die Guten nicht erkennen. Das ist der Preis des freien Willens, den ich den Menschen selbst gewährt habe.
Alles hat seinen Preis, auch für mich.
Also müssen die wahrhaft Guten (Hiob, Jesus) die härtesten Prüfungen bestehen.
Doch nicht jeder Gute soll (oder kann) heilig werden. Das verlange ich von den Menschen gar nicht. Sie sollen nur erkennen – deshalb haben sie den Verstand – was gut und was böse ist. Dabei sollen sie das Böse ohne meine Hilfe überwinden und an mich glauben.

Das ist schon alles.

Dann kommt auch das Gute zu den Menschen, die Liebe, das Glück und das Paradies. In mir ist das Paradies. Und mein Licht ist so hell, dass es alles andere überstrahlt.
Aber Ihr Menschen könnt es noch nicht sehen und erkennen; denn sonst würdet Ihr erblinden. Ich zeige mich Euch nur von hinten (wie in der Bibel), oder im Traum. Folgt mir einfach, dann ist Satan besiegt und Ihr gehört zu mir.
Aber Ihr habt mehrere Chancen (Inkarnationen). Die Religionen des Ostens verstehen das besser als die Juden oder die Christen. Die wollen alles schon in einem einzigen Leben erreichen und deshalb quälen sie sich so. Aber es ist ihr Wille, und viele schaffen es auch von dort zu mir; denn ich bin gnädig und barmherzig. Keiner muss Angst haben, der sich ehrlich bemüht.
Hauptsache, es gibt für Euch keine anderen Götter oder Nebengötter.‘“

Nach diesen seltsamen Worten waren erst einmal alle still.

Der Vermummte fährt fort:

„Wenn ich mit Gott spreche, frage ich: ‚Wie können wir uns Dich vorstellen? Du schufst uns nach Deinem Bilde. Wir sind ein Teil von Dir und Du bist ein Teil von uns?‘
Ist das nicht frevelhaft und gotteslästerlich?
‚Nein, mitnichten.‘
Stellt Euch das so vor:
Du, lieber und großer und gütiger Gott erfüllst uns ganz, wenn wir die menschlichen, die körperlichen Eigenschaften weglassen, wenn wir ‚leer‘ sind. Dann füllst Du uns mit Deinem göttlichen Wesen. Denn vor Gott gibt es kein Vakuum. Wenn etwas leer ist, füllt er es aus.

Dann sind wir Gott. Dann SIND wir.

Das ist das SEIN. Es ist nicht abhängig von Raum oder Zeit. Es ist ewig.

Andererseits aber sind wir nur eine Zelle von Gott, ein winziges Segment von ihm; denn er ist unendlich groß. Er ist umfassend und für uns Menschen unergründlich.
So können wir das für uns Menschen plausibel machen: Eine von Gottes Zellen sein zu dürfen, ist eine große Gnade. Denn Gott kümmert sich um jede seiner Zellen, sie sind ja Teile von ihm.

Es ist wie in unserem Körper, den uns Gott für die Dauer unseres Erdenlebens zur Verfügung gestellt hat. Er besteht aus Billionen von Zellen. Einzelne davon sterben schnell ab, die äußeren Hautzellen zum Beispiel. Sie fallen ab, werden abgewaschen oder abgeschnitten. Und trotzdem sind sie nicht sinnlos. Sonst wären sie nicht da. Manche existieren nur sehr kurz. Die meisten geben nur in großen Mengen Sinn. Eine einzige Zelle hat kaum Bedeutung. Manche Zellen kommen aus früherer Zeit. Wie zum Beispiel die Haare: In großen Gruppen können sie uns Wärme und Schutz geben, wenigstens ein bisschen. Aber wir brauchen sie heute eigentlich nicht mehr. Jedenfalls nicht so, wie die Vögel die Federn brauchen oder die Bisamratten oder Biber das Fell.
Manchen der heute lebenden Menschen sind für Gott vielleicht so überflüssig wie die Haare es bei uns sind, geworden sind.

Aber die Haare verleihen uns auch Schönheit. Wie der Bart dem Manne oder die langen Haare manchen Frauen oder Männern oder auch die Nägel und Kopf- und Barthaare bei den Sikhs. Sie erkennen wohl die Göttlichkeit der Haare. Jetzt fange ich an zu verstehen, warum die Sikhs ihre Haare nicht schneiden dürfen. Das trifft dort wohl für Männer und Frauen zu.

Lieber Gott, selbst wenn wir nur Haare oder Nägel von Dir sein dürfen, müssen wir dankbar sein, denke ich.

Manche Zellen von Dir sind aber vielleicht auch Organzellen, manche gehören zum Sehen, manche lassen das Herz schlagen, manche gehören zum Rückenmark, manche zum Gehirn. Manche sind wichtig, manche essentiell, manche überflüssig. Aber wir vermögen das nicht zu beurteilen.

Aber immer können es nur mehrere, viele Zellen sein, die eine Funktion erfüllen.
Eine einzelne Zelle von Dir kann kaum etwas ausrichten. – Höchstens vielleicht schreiben, singen, Dich loben oder zu Dir beten.

Ich danke Dir, dass ich eine Deiner Zellen sein darf.

Manche Gruppen von Menschen haben vielleicht so einen göttlichen Sinn.
Aber sie haben wohl keinen Sinn, wenn sie sich gegenseitig bekämpfen oder ausrotten.
Deshalb vermeiden es vielleicht die gläubigen Sikhs, dass sie mit ihren Händen oder Werkzeugen ihre Nägel und Haare abschneiden. Es ist für uns ‚Westler‘ oder ‚Christen‘ nur schwer nachvollziehbar, aber es ist verständlich.

Wir müssen und sollen unsere Zellen pflegen. Denn alle sind ein Teil von Gott.
Wenn wir aber mit unseren Händen und Werkzeugen beginnen, andere Menschen – oder auch Tiere – zu töten und zu vernichten, dann ist das eine Rebellion gegen Gott. Ausgenommen das ‚Einverleiben‘, das wir während unserer Lebenszeit benötigen. Vegan oder vegetarisch oder was auch immer: Wir müssen uns andere Zellen ‚einverleiben‘, um überleben zu können.

Und wie ist es bei Dir, großer Gott? Verleibst Du Dir auch Zellen ein für Dein ewiges Überleben? Verleibst Du Dir Sterne und Galaxien ein?

Diese Gedanken übersteigen unseren menschlichen Rahmen. Wir haben allenfalls eine Ahnung davon, aber mehr auch nicht.

Ich fasse also noch einmal zusammen:

Wir alle sind Zellen von Dir, lieber Gott.

Und Du erfüllst uns ganz, wenn wir unsere menschlichen Eigenschaften verlieren. Vor und nach unserem irdischen Leben sind wir von Dir erfüllt. JE LEERER WIR SIND, UMSO VOLLER SIND WIR VOR GOTT.

Deswegen brauchen wir keine Angst zu haben.

Aber während unserer von Dir gegebenen Lebenszeit sollen wir Dich loben, preisen und auch die anderen Wesen, die anderen Zellen, tierische und pflanzliche, pflegen, so gut wir können.

Zum Teil natürlich uns auch einverleiben, aber nur so weit, wie wir das für unser Leben brauchen.

Aber wir dürfen keine Zellen aus anderen Gründen vernichten oder töten.
Dann leben wir in Frieden miteinander und in Frieden mit Gott.
Wir sind Zellen Gottes und Gott erfüllt uns ganz.“

Die anderen Mitreisenden waren jetzt erst recht sprachlos und wussten eine ganze Zeitlang nicht, was sie entgegnen sollten.

Berndt antwortet:

„Was du gesagt hast, Vermummter ohne Namen, klingt sehr plausibel. Es klingt fast wie Meister Eckhart oder Robert Musil. Aber in einer leichten, populistischen Version. Trotzdem erschreckt es mich. Eigentlich hast du auf unserer Bootsreise nichts verloren; denn du glaubst, etwas zu wissen. Zumindest tust du so. Du sprichst in prophetischen Worten zu uns und willst uns erklären, was Gott ist, was er will und was wir tun sollen.
Aber genau das brauchen und wollen wir hier nicht. Schon so viele Scharlatane haben versucht, uns Gott zu erklären. Aber wir wissen ja gar nicht, ob es Gott gibt. Wir brauchen keine neuen Propheten, denke ich. Es hat schon so viele gegeben, aber keiner von ihnen hat uns die Erlösung, den Frieden, die Weisheit gebracht. Die Juden warten heute noch auf den Messias. Und sie lassen Millionen von Palästinensern in ihrem ‚gelobten Land‘ krepieren. Begründen dies scheinheilig mit Messer- und Raketenangriffen, aber sind eigentlich nur Rassisten. Dabei stammen sie mit den Palästinensern von derselben ‚Rasse‘. Die Christen glauben, dass Jesus der Messias war, aber sie hören nicht auf seine Worte. Und geholfen hat er der Welt bisher auch nicht. Millionen von Toten wurden im Namen der sogenannten ‚Christenheit‘ geopfert. Die Muslime glauben, dass Mohammed ihnen die Weisheit erklärt hat, aber sie bekriegen und töten sich gegenseitig und sind völlig zersplittert. In Asien gibt es viele Götter, aber den Frieden und die Weisheit finden wir auch dort nicht. Egal, ob im Taoismus, Hinduismus oder Buddhismus, es gibt Millionen von Vorschriften und immer wieder Gewalt und Kriege.

Wenn es einen Gott gibt – DAS kann er doch nicht wollen! Oder doch?

Lieber Vermummter: Wenn wir weiter sprechen sollen, dann verrate uns bitte zunächst Deinen Namen, sage uns, woher Du kommst und was Du von uns willst, und dann können wir gerne auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. ‚Götter‘ und ‚Propheten‘ haben auf unserem Boot nichts verloren.

Wir SUCHEN den Weg, aber wir finden ihn nicht. Das ist das Dilemma. Wir wissen nichts, aber sind wissbegierig. Ich bleibe dabei: Wir drehen uns im Kreis. Und wir kennen keinen Ausweg. Oder doch?“

Die Reaktionen der Anderen

Carlos, Michael, Julia und Klaus rückten allmählich zu dem Vermummten am Bootsrand hin, so dass Berndt entsetzt rief: „Passt auf, das Boot bekommt Schlagseite. Bitte nicht alle zum Bootsrand rutschen, sonst kentern wir. Bleibt bitte möglichst in der Mitte des Bootes.“

Widerstrebend hielten die anderen inne und rutschten wieder in die Mitte. Nur Julia näherte sich immer mehr dem Vermummten. Carlos rief: „Berndt hat recht. Wir hören dir gerne zu und wollen auch mit dir diskutieren. Aber zunächst möchten wir wissen, wie du aussiehst und wer du bist.“ Michael nickte ebenfalls zustimmend. Klaus ergänzte: „Ja, wir sind alle wissbegierig und möchten gerne mit dir diskutieren. Aber mit einem Kapuzenmann können und wollen wir nicht reden.“

Währenddessen war Julia immer näher an den Vermummten gerutscht, und plötzlich, ohne Vorwarnung, riss sie ihm die Kapuze weg. Er versuchte noch, diese festzuhalten, aber vergebens.

Da saß er nun, in sich zusammengesunken, und sah die anderen an. Er war nicht mehr jung, aber auch noch kein Greis. Seine Haare waren grau, fast weiß, und ganz kurz geschnitten, vielleicht auf fünf Millimeter. Seine blaugrauen Augen fixierten Julia und die anderen.

„Jetzt seid ihr aber stolz“, brummelte er. „Vor allem die Herrin Julia, die nur alles weiß, was ihr die evangelische Pfarrerin sagt. Euer Geschwätz klingt wirklich recht blöd. Ihr wisst nichts und seid auch noch stolz darauf, beweihräuchert euch selbst mit eurem Nichtwissen. Habt ein bisschen gelesen und ein wenig studiert und meint nun, mit eurem bisschen Verstand kämet ihr weiter. Bringt Definitionen, verwerft sie wieder, stellt erneut alles in Frage und kommt nicht weiter. Dreht euch im Kreise. Der Einzige, den man ein wenig ernst nehmen kann, ist Klaus. Er ist auf einer Spur, weiß nur selbst nicht, auf welcher.

Ich bin kein Gott und auch kein Prophet. Aber ich versuche, Dinge zu verstehen. So, wie Ihr das auch tut. Einiges habe ich gelesen, noch viel zu wenig, fürchte ich. Aber ich bin auf der Spur, und ich hoffe, dass ich noch vor dem Ende meines Lebens etwas weiter gekommen sein werde.

Ganz viel gebe ich auf Träume und Visionen. Träume haben wir jede Nacht, aber leider vergessen wir die meisten während des Lebens im Tagesbewusstsein. Ganz schlimme, ganz wichtige oder auch immer wiederkehrende behalten wir uns. Das geht bis in die Kindheit zurück. Aber es scheint möglich zu sein, bei genügender Konzentration Träume besser behalten zu können. Ich versuche, das zu üben. Dafür gibt es etliche Kniffe, Hilfsmittel und Techniken. Leider stellen die meisten Träume nur Verarbeitungen des Tages dar oder versuchen, Ängste und Begierden zu bewältigen oder auch Sehnsüchte zu stillen. Aber einige scheinen ganz besondere Bedeutung zu haben, da wird der Vorhang zum Jenseits ein wenig geöffnet. Wenn wir es lernen, diese Träume zu behalten, dann können wir sie analysieren und im Leben weiter kommen.

Also versuche ich, ein bewusster Träumer zu werden.

Außerdem bete ich regelmäßig zu Gott, zu meinem Gott. Zu dem einen Gott, der alles und daher auch mich erschaffen hat. Ich bete auf meine eigene Weise, die ich in meinem Leben gefunden habe oder besser ‚gefunden zu haben glaube‘. Ob diese Weise auf Dauer oder auch für andere die richtige ist, kann ich nicht sagen.

Und manchmal spricht Gott zu mir. Ihr könnt lächeln oder mich für verrückt halten, mich mit anderen Menschen vergleichen, die das auch von sich behaupten oder behauptet haben und die ihr wahrscheinlich auch belächelt oder für verrückt haltet. Was soll’s? Jeder muss seinen eigenen Weg finden und gehen. Aber wenn man will, hilft Gott dabei. Davon bin ich überzeugt; denn ich glaube fest daran.
Ich könnte noch vieles sagen, aber jetzt wäre es wahrscheinlich zu viel.
Also versuche ich, herauszufinden, was Gott von mir will.
Übrigens – wenn ihr es denn wollt: Mein Name ist Hans.“

Klaus fragt nach:

„Danke Hans, dass du uns – wenn auch nicht ganz freiwillig – dein Gesicht zeigst und deinen Namen genannt hast. Was du gesagt hast, ist aber nichts Neues. Versuchst, deine Träume zu behalten und sie zu analysieren. Das versuchen die Menschen schon seit Jahrtausenden. Ganze Bibliotheken sind mit ‚Traumdeutungsbüchern‘ gefüllt. Es gibt viele Traumdeutungslehren, und auch Traumdeuter gab und gibt es einige. Die meisten davon aber sind Spinner, wenn du mich fragst. Doch mich fragst du ja nicht.
Du glaubst, dass Gott ab und zu mit dir spricht – was viele vor dir auch schon geglaubt haben – George W. Bush ist ein lustiges Beispiel, aber auch viele Propheten des Alten Testaments glaubten das. Dann kam Jesus, später auch Mohammed und noch viele andere Visionäre und Heilige oder auch Scheinheilige. Alle glaubten, Eingebungen und Erleuchtungen von Gott zu haben. In den fernöstlichen Religionen gibt es auch etliche dieser Exemplare zu benennen.

Und jetzt erzählst auch du uns, lieber Hans, dass Gott dann und wann zu dir spricht. Ich kann darüber nur lächeln. Eigentlich ist es ja ganz einfach: Ich schließe die Augen, bringe mich in eine entspannte Position, konzentriere mich und bete. Und dann, manchmal, höre ich eine Stimme, die zu mir spricht. Er sagt mir vielleicht, was ich tun soll, oder er offenbart mir liebenswürdigerweise ein ganz kleines Stück des ‚großen Geheimnisses‘, was er ja ansonsten eigentlich nicht tut. Wenn es dir hilft, es sei dir gegönnt. Aber wir, und dabei schaute er in die Runde der anderen, können eigentlich auf deine Visionen verzichten.

Von Träumen berichtet uns auch der große portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa. In zahlreichen Pseudonymen und auch Heteronymen (ähnlich wie Pseudonyme, nur bei den Heteronymen haben alle Pseudonyme eine eigene Biografie und schreiben unter ihrem Heteronym quasi selbst), beschäftigt er sich mit der Realität und den Träumen. Er stellt die Frage, ob nicht die Realität auch nur ein Traum sei. Letztlich gäbe es keine Realität, sondern nur Träume. Wir Menschen wären auch nur Traumgestalten.
Das ist indes auch nichts Einzigartiges. Schon viele hatten diese Ideen. Franz Grillparzer (‚Der Traum ein Leben‘, 1834 im Burgtheater Wien uraufgeführt), orientierte sich an dem Drama von Pedro Calderón ‚Das Leben ist ein Traum‘ aus dem Jahre 1635. Dort ging es um die Frage der Freiheit und der Verantwortung. Aber das würde in diesem Gespräch zu weit führen.

Was ich sagen möchte, geht um eine der Grundfragen auf diesem Boot: ‚Was wissen wir, was können wir wissen?‘

Pessoa orientiert sich unter anderem an Platon. Sokrates sagte ja, wie es so oft heißt: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘. Das ist ja ein Widerspruch in sich selbst. Wie kann er so etwas behaupten? Wenn er nichts weiß, kann er auch das ja nicht wissen. Also gibt es doch ein Wissen. Aber, wer sich nur ein ganz klein wenig mit Platon beschäftigt, weiß, dass dieser blöde Spruch nur auf einem Übersetzungsfehler beruht, und dass Platon niemals einen solchen paradoxen Schwachsinn erzählt hätte. Er stellte nur die Möglichkeit des menschlichen Wissens grundsätzlich in Frage. Letztlich kam er auch nicht weiter als wir alle auf diesem Boot: Am Ende herrschte auch bei Platon Ratlosigkeit.

Ab er Pessoa ging noch weiter. Er ließ einen seiner Heteronyme behaupten: „Ich kann nicht wissen, dass ich nichts weiß.“ Diese Lächerlichkeit nannte er dann ‚Ironie‘ und bezog sich dabei auf Sanchez. Der 1550 geborene Franciscus Sanchez war ein Skeptiker, der alles hinterfragte. Er wäre nie auf die Idee gekommen, im Aristotelischen Sinne beweisen zu können, dass er nichts weiß. Auch bei ihm herrschte am Ende – wie schon bei Platon – Ratlosigkeit. Wer will, kann das alles nachlesen. Am Ende wird er erkennen, dass auch die Philosophen und die Dichter uns nicht weiterhelfen.

Also, lieber Hans, bevor ich dich frage, was du damit meinst, dass ich ‚auf der richtigen Spur sei‘ (wenn ich dich recht verstanden habe), möchte ich dich doch dringend ersuchen, mit den Beschimpfungen anderer aufzuhören, z.B. der Julia, die wenigstens ihren evangelischen Glauben hat. Ich kann es aber verstehen, dass es dich ärgert, dass sie dir die Kapuze weggerissen hat.“

 

Woher-Wohin