Carlos

Carlos

„Gestattet, ich bin Carlos“, meldet sich einer zu Wort, der bisher fast unbeachtet an der Reling gesessen hatte. „Vorhin habe ich etwas von der Ähnlichkeit zwischen den Tieren und den Menschen gehört. Und das beschäftigt mich die ganze Zeit.

Es ist doch wohl so, dass wir Menschen von den Tieren abstammen. Das wird ja heutzutage kaum noch einer bestreiten. Außer vielleicht einigen religiösen Fundamentalisten.

Ich frage mich in diesem Zusammenhang so vieles: Sind wir vielleicht immer noch Tiere, nur eben auf einer höheren Entwicklungsstufe als diese? Sarkastisch könnte man auch manchmal meinen, wir wären auf einer niedrigeren Stufe als manche Tiere. Weil wir drauf und dran sind, mit den Schöpfungen unseres Intellekts (unseres Verstandes möchte ich nicht sagen), unsere eigene Gattung auszurotten. Die Schöpfungen unseres Intellekts sind Waffen, industrielle und technische Errungenschaften, landwirtschaftliche, umweltzerstörende Produkte, politische und religiöse Ideologien, sich bekämpfende Staaten usw.  Die „Beißhemmung“, die die meisten Tiere haben, ist bei den Menschen vielfach abhandengekommen.

Bei der Evolution der Menschen haben sich insgesamt offenbar die kriegerischsten, brutalsten Exemplare gegenüber den harmloseren Vertretern der Menschengattung mehrheitlich durchgesetzt. Jedenfalls wurden sie eher die Herrschenden und Reichen als die Sklaven oder die Armen. Die Krieger haben die Denker verdrängt.

Wie dem auch sei: auch ich denke seit einiger Zeit darüber nach, ob die Menschen eine ‚Seele‘ haben. Dabei frage ich mich auch, was eine solche ‚Seele‘ sein könnte.

Die ‚Seele‘ ist ja in unserem Sprachgebrauch sehr präsent: ‚Das tut Leib und Seele gut‘, ‚ich wurde seelisch verletzt‘, ‚ich ging zum Seelendoktor‘, er wurde von ihr wegen ‚seelischer Grausamkeit‘ geschieden, ‚das ist Musik für die Seele‘, ‚die Seele hat den Körper verlassen‘, ‚gut essen und trinken hält Leib und Seele zusammen‘ usw.

Es wird häufig von der ‚Seele‘ gesprochen, aber noch nie hat jemand eine ‚Seele‘ gesehen, sie wurde noch nie vermessen (abgesehen von einigen skurrilen Versuchen, als Todkranke vor ihrem Ableben und dann wieder unmittelbar nach dem Tode gewogen wurden. Wenn sie nach dem Tode weniger wogen, wurde das mit dem Entfliegen der Seele erklärt). Wissenschaftlichen Überprüfungen hat das freilich nie standgehalten. Ebenso wenig überzeugend waren fotografische Aufnahmen mit allen möglichen Filmen, technischen Tricks etc., die die Seele zeigen sollten. Alles negativ.

Also gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir glauben trotz allem an eine Seele, oder nicht. Natürlich können wir auch ‚vielleicht‘ an eine Seele glauben, aber das bedeutet nur genau so viel, als ob man meint, dass man ‚vielleicht‘ einen Menschen liebt, dass man ‚vielleicht‘ gesund sei, dass man ‚vielleicht‘ im kommenden Jahr sterben wird. Das ‚Vielleicht‘ bringt einem beim Denken absolut nichts. Entscheidungen sind gefragt, und wenn sie falsch waren, kann man sie ja später widerrufen.

Ok, ich entscheide mich also dafür, dass es eine Seele gibt. Als junger Mann konnte ich das auch recht leicht begründen. Ich sagte mir einfach, all das, was ich einmal im Leben gedacht und gefühlt habe, kann ja mit meinem Tode nicht ‚verschwinden‘. Es gibt so etwas wie den ‚Energieerhaltungssatz‘ und nichts Gedachtes wird vergehen. Also auch meine Liebe nicht, meine Begeisterung, meine Ängste. Auch wenn der Körper und das Gehirn zerfallen.

Mein ältester Sohn hat mich am vergangenen Wochenende wieder an diese Gedanken erinnert.

Aber ist das wirklich so einfach? Besteht die Seele denn aus ‚Energie‘? Und wenn nicht, woraus besteht sie dann? Was gibt es noch außer Materie und Energie?

Gibt es einen ‚Urgrund‘ der Seele, der allen Seelen gemeinsam ist, aus dem sie kommen und in den sie wieder zurückkehren? Sind die Seelen ein ‚Gemeinschaftsbrei‘, aus dem einzelne Seelen sich individualisieren, in Menschen hineinschlüpfen und aus dem sie nach deren Tod wieder in die ‚Gemeinschaftsseele‘ zurückschlüpfen?

Ich muss zugeben, diese fernöstliche Sichtweise war mir nie angenehm. Ich sehe die Seelen eher als durch und durch individuell. Ich will nicht ewiglich ‚in der Masse schwimmen‘. Aber andere sehen das vielleicht anders und finden ihr Glück dabei.

Nur – was ist wahr? Wer zeigt mir die Wahrheit?

Vielleicht kann ich sie auf diesem Boot finden?“