Der Tod und danach – Eine Erzählung

Der Tod und danach

Eine Erzählung

Der Unfall

B. sah das grelle Licht des Lastwagens frontal auf sich zukommen. Den Zusammenprall konnte er nicht mehr vermeiden. Ihm war klar, es war das Ende. Das Ende seines Lebens. Blitzschnell lief sein gesamtes Leben vor sich ab. Die Kindheit, Jugend, die Eltern, Großeltern, Schule, Hochzeit, die Kinder, sein gesamtes Leben. Doch die Zeit war für den ganzen Ablauf zu kurz. Es kam ein dumpfer Schlag. Dann war alles dunkel. Er ergab sich in sein Schicksal und atmete leise aus.

Plötzlich war alles ganz anders. Er war nicht weg. Es gab ihn noch. Er war ohne Körper, aber dennoch präsent. Er sah. Von oben. Sein verbeultes Auto und den umgekippten Lastwagen. Und er konnte denken. „Wo ist mein Körper?“ fragte er sich. „Offensichtlich ist mein Körper tot. Aber ICH, ich bin hier. Also kann ich ohne Körper denken, Fragen stellen. Das entspricht nicht dem, was die Naturwissenschaftler sagen.“

B., oder sagen wir besser, seine Seele, sein Geist, seine nichtkörperliche Existenz – kein sprachlicher Begriff kann das genaue Wort treffen, ohne dass es Widerspruch gäbe – war ratlos. Was sollte, konnte er machen? Oder ging es nicht mehr ums „Machen“, wie im körperlichen Leben? Musste, sollte, konnte er einfach nur „sein“? Aber wie ging das, einfach nur zu „sein“?

Jetzt wurde er von diesen Gedanken abgelenkt. Mit Blaulicht und großem Getöse kamen Rettungswagen, Feuerwehr, Polizei. Der LKW-Fahrer wurde aus dem verbeulten Führerhaus geholt und auf eine Bahre gelegt. Er schien noch zu leben. Dann schnitt die Feuerwehr den zerstörten PKW auf. Die Leiche von B. wurde herausgezogen. Ein Sanitäter vom Rettungswagen schüttelte den Kopf. Dann wurde der Körper auf eine Trage gelegt und zugedeckt.

B. sah das alles. Er war Beobachter und Zuschauer. Wie sollte das jetzt weitergehen? Sein vergangenes, irdisches, körperliches Leben war ihm nicht mehr so präsent wie in den letzten Sekunden vor dem Unfall. Es hatte an Bedeutung verloren.

B. dachte und fühlte sich unwohl. Er erinnerte sich an Dinge, die er in seinem irdischen Leben gelesen hatte. Da war von einem Tunnel die Rede, einem hellen Licht, das die Toten empfing, den gestorbenen Verwandten, die einen in Empfang nahmen. Aber er war allein. Niemand empfing ihn. Wo war das Licht? Wo war Gott?

Er schwebte über einem Unfallort und wusste nicht, wohin.

Seine Seele bewegte sich langsam weiter. Im irdischen Leben hatte er etwas von 40 Tagen gehört, während denen die Seelen noch ein wenig ruhelos umherschwirrten, bevor sie sich auflösten, gewissermaßen in einem großen „Seelenpool“ landeten und sich mit anderen Seelen vermischten. Dann war es wohl vorbei mit der Individualität. Das sagten zumindest einige Religionen. Andererseits hatte er aber auch von anderen Fällen gehört, wo die Opfer eines Verbrechens noch jahrhundertelang herumgeisterten und keine Ruhe fanden. Wie aber war es nach einem Verkehrsunfall?

Und wo war Gott? Nach dem Erdenleben sollte man aus Sicht christlicher Religion doch ins Himmelreich kommen oder in die Hölle. Es sollte eine Reinigung stattfinden. Gutes sollte gegen Böses aufgerechnet werden. Wo war Petrus, wo war der Teufel?

B. sah nur den Unfallort. Mittlerweile wurden die Fahrzeugreste weggeschleppt. Der offenbar noch lebende und der tote Körper waren weggefahren worden. Und B. war allein. Seelenallein.

So schwebte er langsam weiter. Über die Straße entlang bis zum nächsten Dorf. Dort spielten Kinder, und Hühner liefen herum. B. schwebte tiefer hinunter. Er konnte die Höhe wechseln. Jetzt hörte er die Kinder schreien und die Hühner gackern. Also konnte er nicht nur denken, sich erinnern, sondern auch hören und sehen. Ein Ball landete vor ihm. Es juckte ihn, er wollte ihn zu den Kindern kicken. Er griff danach. Aber er griff ins Leere. Also konnte er nicht mehr handeln. Jedenfalls nicht mehr in der Welt der Lebenden. Mit dieser Situation musste er zurechtkommen. Sollte das jetzt immer so weitergehen? Ewige Einsamkeit? Diesen Gedanken mochte er nicht. Gewiss, er war zeitlebens (lustig, „zeitlebens“, dieses Wort, dachte er) ein Einzelgänger gewesen, brauchte nicht immer menschliche Gesellschaft. Aber ganz ohne Andere? Ganz allein? Für immer und ewig? Das war selbst für ihn traurig. Soll er jetzt „zeittodes“ auch immer allein sein?

Der Tod und danach

Die ersten Begegnungen

Er schwebte weiter über das kleine Dorf hinweg. Dort sah er die Kirche und dahinter den Friedhof. Auch hier keine Menschenseele. Aber doch. Was war das? Schwebte über einem der Gräber nicht eine Seele? B. pirschte sich langsam heran. „Hallo“, sagte er. Die andere Seele stieg etwas hoch, bis sie auf seiner Höhe war. „Hallo, kennen wir uns?“ fragte die andere Seele. „Nein, ich glaube nicht. Ich bin B. Hatte vorhin einen Autounfall.“ „Ach so, du bist neu“, sagte die andere Seele. „Ich bin N. Schon seit drei Wochen tot. Besuche gerade das Grab meiner Mutter. Sie ist schon lange weg. Ihr irdischer Körper ist wohl ganz verrottet, und ihre Seele finde ich nicht mehr. Ich dachte, wenn ich tot bin, und ich komme ja aus dieser Gegend, müsste ich die anderen von hier, die auch tot sind, finden. Jedenfalls ihre Seelen. Aber sie sind alle weg. Einfach verschwunden. Hast du dafür eine Erklärung?“

„Nein“, antwortete B. „Es ist alles ganz anders, als es die Lehrer, die Pfarrer, die Bücher beschreiben. Kein Empfangskomitee, keine Abrechnung, kein Wiedersehen. Einfach nichts. Einsamkeit. Leere.“

„Nun ja“, entgegnete N. „Ich bin ja da. Jetzt sind wir schon zu zweit.“ B. versuchte zu lächeln. Aber wie konnte er lächeln? Er hatte ja kein Gesicht, war nur eine Seele. Er hatte eine neblige, fast durchsichtige Form, irgendwie tropfenförmig, ohne Kopf, ohne Gliedmaßen und auch ohne Flügel; denn er war kein Engel. Die lebenden Menschen auf der Erde konnten ihn wohl nicht sehen. Aber er sah sie. Es war unheimlich. Er war nur das, was die Menschen einen Geist nannten.

„Lass‘ uns ein bisschen weiterfliegen“, sagte B. Und sie schwebten über die Straße, die in die Stadt führte. Dort änderte sich das Bild sehr. Ganz viele Seelen waren zu sehen. Kleinere, größere, mit unterschiedlicher Durchsichtigkeit. Eine kam ihnen ganz nahe. „Wo kommt Ihr denn her?“ fragte sie. „Vom Dorf. Das ist N. und ich bin B.“, sagte B. „Aha. Ich bin K. Willkommen im Club der frischen Toten.“ „Frische Tote?“ fragte B. „Wieso frisch?“ „Wir alle, die Ihr hier sehen könnt, sind relativ frisch gestorben. Ihr könnt uns noch gut sehen. Nach einer gewissen Zeit werden wir blasser und durchsichtiger, sind am Ende nur noch ein dünner Nebel, und dann sind wir verschwunden.“ „Und dann?“ fragte B. „Das ist ja das Problem. Das wissen wir alle nicht. Wir waren hier in der Stadt Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen, mit vielen Religionen. Christen, Muslime, Juden, Buddhisten, Hindus usw. Viele auch ganz ohne Religion. Alle warten auf irgendetwas. Manche sagen, sie werden abgeholt, andere behaupten, sie würden in einer großen Seelensuppe landen. Aber niemand weiß etwas. Wir sind ziemlich verzweifelt. Am verzweifelsten aber scheinen die zu sein, die dachten: ‚Wenn ich tot bin, bin ich einfach weg, fort, ein Funken im All.‘ Sie haben leider merken müssen, dass sie zwar tot sind, aber trotzdem immer noch ‚da‘. Wie kann das funktionieren und wie geht es weiter? Und viele fragen sich: ‚Wo ist Gott?‘“

Und was sollen wir jetzt machen?“ fragte N. „Einfach reden, beobachten und warten,“ sagte K. „Niemand von uns weiß, wie es weiter geht.“ „Und worüber sollen wir reden?“ fragte N. „Über unser früheres Leben vielleicht? Wäre sicherlich interessant. Hier in der Stadt gibt es ja die verschiedensten Menschen. Ärzte, Priester, Lehrer, Studierte und einfache Leute, Kinder, Jugendliche, Menschen aus vielen Ländern. Die könnten erzählen, was sie früher gemacht haben und wann und warum sie gestorben sind.“ „Und wen interessiert das?“ fragte B. „Sie sind tot, schweben hier noch eine Zeitlang herum, und dann sind sie weg. Und niemand weiß, wohin es dann geht. Sie lösen sich in Nebel auf und verschwinden dann irgendwie.“

Eine neue Seele kam herbeigeschwebt. „Entschuldigung, ich habe das gerade mit angehört. Wir schweben alle hier herum und sind ziemlich ratlos. Mein Name ist F. Ich war früher Rechtsanwalt. Mein irdisches Leben ist vorbei, und Euch interessiert bestimmt nicht, was ich in meinem Leben gemacht habe und warum.“ Auf diese Rede sagte zunächst niemand etwas. Dann sagte K.: „Wir sollten einfach reden. Worüber auch immer. Ob es etwas bringt, weiß niemand.“

„Was soll es schon bringen?“ fragte N. „Wir sind tot, wissen nicht, was kommt, ob überhaupt etwas kommt, sind im Stich gelassen worden. Alles, was unsere Eltern, Lehrer, Pfarrer, Wissenschaftler usw. sagten, war wohl nicht richtig. Wir sind völlig verloren, könnten uns eigentlich umbringen. Aber das geht ja nicht mehr.“  Er räusperte sich in der Form einer Art des Lachens.

„Vielleicht weiß ja doch irgendjemand etwas“, meinte K. „Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben. Es gab ja schon immer Berichte von Menschen, die fast gestorben waren, aber dann wieder kurz vor dem endgültigen Tod zurückkamen. Sie beschrieben sogenannte Nahtoderlebnisse. Davon gibt es viele Berichte und Bücher. Z.B. von dem Amerikaner Raymond A. Moody oder der Schweizerin Elisabeth Kübler-Ross. Da ist immer wieder die Rede von einem Tunnel nach dem Tod, einem hellen Licht, Verwandten, die einen begrüßen. Ihr habt sicher schon davon gehört.“ „Na und?“ sagte B. „Offenbar stimmt das alles nicht. Die waren ja offenbar nicht richtig tot. Oder gibt es hier jemanden, dem auch so etwas passiert ist?“ „Wir sollten mit den anderen reden“, sagte K.

Der Experte

Ok“, sagte B. „Wir sind jetzt vier. N., K., F. und ich. Ziehen wir weiter und fragen wir andere.“ „Gut“, murmelten die anderen. Sie schwebten über einer Straße im Zentrum der Stadt. Vor ihnen waren mehrere Seelenblasen zu sehen. „Hallo“, rief K. „Könnt ihr uns sehen?“ „Warum denn nicht?“ sagte eine der Seelen. „Was willst du von uns?“ „Reden“, sagte K. „Worüber?“ fragte die Seele. „Über unsere Situation“, war die Antwort. „Unsere Situation ist armselig“, sagte die Seele. „Ich heiße O. Im früheren Leben war ich Pfarrer.“ „Da müsstest du ja etwas wissen“, rief K. „Was soll ich wissen?“ fragte O. „Ich bin nicht klüger als ihr. Langsam denke ich, dass ich früher nur dummes Zeug gepredigt habe. Jetzt ist es völlig anderes, als ich jemals dachte. Wir scheinen hier in einem Zwischenstadium zu sein, recht einsam, und wissen nicht, ob etwas kommt oder nicht. Es ist einfach traurig. Vielleicht haben wir uns als Menschen zu wichtig genommen.“ Nun fragte N., der während der Rede von O. gegrübelt hatte, „wir sehen hier nur Seelen frisch gestorbener Menschen, aber keine Seelen von frisch gestorbenen Tieren. Woher kommt das? Haben Tiere keine Seelen? Wenn ja, dann müssen doch Menschen viel wichtiger sein als Tiere.“ „Oh nein“, sagte O. „Das sehe ich ganz anders. Vielleicht können nur Tierseelen die Seelen von Tieren sehen.“ „Das ist doch unlogisch“, erwiderte B. „Dann müsste es ja einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Tieren und Menschen geben. Betrachten wir die Entstehungsgeschichte der Menschheit, dann müssten ab irgendeinem Zeitpunkt oder ab irgendeinem Zeitraum die Menschen das Tierreich verlassen und zu Menschen geworden sein.“

„Ja, ja, die Logik, die menschliche Logik“, sagte O. „Was gilt die menschliche Logik hier, jetzt, wo wir als seltsame Nebel herumschweben? Ist das logisch? Und warum sollten Menschen wichtiger sein als Tiere? Was ist wichtig? Vielleicht haben Tiere feinere, durchsichtige Seelen, die wir nicht erkennen können, vielleicht sind es ganz kleine Seelen, so winzig, dass sie für uns unsichtbar sind. Und Wesen aus dem angeblichen Zeitraum des Übergangs vom Tier zum Menschen gibt es sicherlich nicht mehr. Das war wohl vor mehr als einer Million Jahren. Wir wissen doch nichts, gar nichts.“ Nach diesen Worten herrschte eine große Ratlosigkeit. Eine ganze Weile sagte niemand etwas. „Was sollen wir denn jetzt tun?“ fragte K. N. lächelte, soweit er als Nebel lächeln konnte und sagte zu K.: „Siehste, jetzt bist auch du ratlos. Das Reden bringt wohl nichts. Also müssen wir warten. Einfach warten, ob etwas kommt, ob und wann wir verschwinden.“ „Das kann es doch nicht sein“, sprach F. „Bereits die Tatsache, dass wir, obwohl gestorben, noch miteinander reden können, beweist, dass wir gar nicht handlungsunfähig sind. Ich frage mich nur, warum wir noch handeln können. Das muss doch einen Grund haben. Vielleicht ist es unsere letzte Prüfung?“

„Prüfung? Von wem? Wozu?“ fragte N. „Wenn es einen Gott geben sollte, hätte er es wirklich nicht nötig, uns nach dem irdischen Tod noch als Nebelschwaden herumgeistern zu lassen. Was soll denn das bringen?“ „Vielleicht sollen wir einfach Fragen stellen“, meinte O. nachdenklich. „Wir können nicht mehr auf die Welt zugreifen, sie aber sehen und miteinander kommunizieren. Vielleicht unsere letzte gemeinsame Kommunion“, erklärte er verschmitzt. „Das ist mir alles viel zu kompliziert“, sagte B. „Das ist doch nur Gerede. Ich habe den Eindruck, Ihr redet nur um des Redens willen. Heraus kommt dabei offensichtlich nichts. Höchstens neue Fragen, aber keine Antworten. Ihr – oder mich eingeschlossen – wir drehen uns nur im Kreis.“ „Was sollen wir denn stattdessen tun?“ fragte K. „Hast du eine bessere Idee?“

„Vielleicht auf Signale warten. Es könnte ja sein, dass wir Signale bekommen und sie nur nicht verstehen“, meinte B. „Vielleicht irgendwie im Traum oder aus dem Unterbewusstsein. Ich erinnere mich an eine Geschichte von meinem alten Religionslehrer. Sie handelte von zwei alten Mönchen, die sich immer wieder fragten, ob die Geschichten über das Leben nach dem Tode, so wie sie im Allgemeinen aus der Bibel interpretiert wurden, richtig seien oder nicht. Da sie sehr eng miteinander verbunden waren und sich meist ohne Worte verstanden, beschlossen sie, dass der Erste von ihnen, wenn er gestorben war, dem Anderen im Traume erscheinen sollte. Und da vielleicht eine längere Konversation im Traum nicht möglich sein könnte, sollte der Verstorbene seinem Mitbruder auf die Frage ‚taliter?‘ (was ‚so‘ bedeutet), nur kurz antworten, ob es dort so sei wie es in den aus der Bibel hergeleiteten Lehren hervorging, oder nicht. Der eine Bruder starb. Der Traum kam, wie vereinbart. Und der andere Bruder fragte: ‚taliter?‘ Worauf der andere nur den Kopf schüttelte und schnell antwortete: ‚taliter aliter‘ (‚völlig anders‘), worauf er leider verschwand.“

„Nette Geschichte“, sagte F. „Aber hilft uns das weiter? Bereits der Umstand, dass wir hier als Nebel herumfliegen, ist ja schon völlig anders, als wohl jeder von uns früher gedacht hätte. Wer soll uns denn hier ein Signal in welcher Form geben? Und das mit dem Traum funktioniert wohl gar nicht. Träumt jemand von Euch noch?“ rief er in die Runde.

Nein“, murmelten alle. „Jedenfalls nicht, dass ich wüsste“, meinte N. „Also, lieber B., hättest du vielleicht noch eine andere Idee?“ „Ja, ich denke, wir sollten nach allem Ausschau halten. Auch nach Sachen, die eigentlich nicht auffällig sind.“ „Du sprichst in Rätseln“, erwiderte N. „Was meinst du damit konkret?“ „Wir sehen ja unter uns die gesamte Stadt“, meinte B. „Die Menschen da unten, die Tiere, die Häuser, Fahrzeuge. Und wir sehen hier oben uns Nebelgebilde. Aber hat jemand von Euch schon gesehen, wie aus einem lebendigen Menschen plötzlich ein Nebeldampf wird? War jemand zugegen, wo gerade ein Mensch starb? Bei einem Unfall vielleicht, oder im Krankenhaus.“ “Ich als Pfarrer war schon oft dabei, wenn jemand starb“ sagte O. „Aber einen aufsteigenden Nebel oder das Entweichen der Seele habe ich noch nie gesehen. Allerdings…“ dabei stockte er ein wenig…“habe ich auch nie darauf geachtet.“ „Wir sind halt jetzt ganz anders sensibilisiert,“ meinte B. „Jetzt könnten wir es vielleicht merken.“ Plötzlich tauchte ein wenig vor ihnen ein ganz kleiner Nebel auf. „Da“, schrie F. „ein ganz winziger Nebel.“

Die Nebel

Franzi

„Hallo“, rief K. „Kannst du uns hören?“ Der kleine Nebel kam langsam näher. Dann zögerte er. „Papa“, kam eine ganz leise Stimme. „Papa?“. „O weh, eine Kinderseele“, sagte K. „Komm her, Kleine. Papa ist sicher auch da.“  „Hör auf mit dem Blödsinn“, meinte N. „Papa ist doch gar nicht hier. Die Kleine wird enttäuscht sein.“ „Woher wisst Ihr, dass es eine Mädchenseele ist?“ fragte F. „Wie heißt denn du?“ fragte er den kleinen Nebel. „Franzi. Seid Ihr Engel?“ „Ist jetzt Franzi ein Jungen- oder Mädchenname?“ fragte F. die Runde. „Vielleicht divers“, warf B. ein. „Entschuldigung, das sollte komisch sein“, fuhr er fort. Die anderen Nebel rückten wie tadelnd etwas von ihm ab. „Nein, Franzi, wir sind keine Engel“, rief K. „Wir waren Menschen wie du. Nur eben große Menschen.“ „Bin ich kein Mensch mehr?“ fragte der kleine Nebel ängstlich. „Wo ist Papa?“ „Papa ist wohl noch unten, auf der Erde, denke ich“, sprach K. „Wir wissen es nicht“, fügte sie hinzu. „Ihr wisst nicht, wo Papa ist? Ihr seid groß. Müsst wissen, wo Papa ist“, erwiderte der kleine Nebel. „Vielleicht sollten wir ihn rufen“, meinte O. Da riefen alle „Papa, Papa, Paaapa“. Und der kleine Nebel rief auch „Papa, Papa, wo bist Du?“ Plötzlich kam von weitem ein großer Nebel herangeschwebt. „Da bist du ja, Franzi. Ich habe dich gesucht.“ Der große Nebel flog zu den Anwesenden.

Hallo“, sagte er. „Seid Ihr auch…tot…Geister…Seelen oder so etwas?“ „Ja“, rief K. Wir sind alle Seelen von toten Menschen. Ich bin K.“ „Angenehm, soll ich wohl sagen?“ Ich bin D. Oder besser: Ich war D. Jetzt scheine ich ein Nebel zu sein. Ich brachte Franzi nach dem Wochenendbesuch zur Mutter, meiner Ex-Frau, zurück, wollte sie zurückbringen, wäre wohl richtiger gesagt. Dann hatten wir einen Verkehrsunfall. Ein Reh ist uns vors Auto gelaufen, ich wollte ausweichen, weiß, dass man das nicht machen soll, aber meine Tierliebe…na ja, die hat mir, uns, jetzt nichts genutzt, im Gegenteil. Ich weiß noch, dass das Auto auf einer Seite abhob, sich überschlug, Franzi schrie, dann kam ein Baum auf uns zu, und alles wurde dunkel. Jetzt sind wir wohl im Reich der Seelen, oder so? Wo sind wir, wer seid Ihr? Sollten wir nicht von Engeln abgeholt werden? Oder kommen wir jetzt ins Fegefeuer? Was ist hier los? Wo ist der Himmel?“

„Nun mal langsam“, sagte O. „Du stellst so viele Fragen. Aber wir alle…“ und dabei stockte er, „…haben diese Fragen auch.  Aber bisher leider keine Antworten. Vielleicht kommt noch etwas, vielleicht kommen Antworten, vielleicht Zeichen, wir müssen einfach abwarten, können ja auch nicht viel tun. Immerhin können wir uns sehen, können irgendwie kommunizieren, ob das Reden ist, weiß ich nicht. Wir sehen die Erdoberfläche, über der wir offenbar schweben, und lernen immer wieder neue Seelennebel kennen. Jetzt leider zum ersten Mal ein Kind.“

„Papa, ich will zur Mama“, flüsterte der kleine Nebel. „Wo ist Mama? Wann sind wir da?“ „Bald, schon bald, Mama muss noch etwas tun“, sagte D. „Was muss Mama tun?“ fragte Franzi. „Warum ist sie nicht da?“ „Ich weiß doch nicht“, antwortete D. hilflos. „Warum weißt du nicht?“ fragte Franzi hartnäckig. „Du hast doch gesagt, Mama muss noch etwas tun. Was muss sie tun? Einkaufen? Pizza holen? Zur Tankstelle? Papa, sag doch…“ D. war offenbar überfordert. Da sprang K. ein. „Liebe Franzi, oder soll ich sagen, lieber Franzi? Bist du eigentlich ein Mädchen oder ein Junge?“ „Ein Mädchen natürlich“, sagte Franzi. „Und du?“ „Ich bin K. eine Frau, ich war auch eine Mutti…ups.“ „Du warst eine Frau?“ kam Franzis prompte Antwort. „Und was bist du jetzt?“ „Jetzt bin ich ein Nebel. Das geht wohl irgendwann bei allen Menschen so. Alle Menschen werden Nebel. So wie Papa. Und du…“ „Und Mama? Wo ist Mama? Ist sie auch ein Nebel?“ „Ich glaube nicht“, meine K. zögernd…“Hör bitte auf“, sagte D. „Du überforderst doch das Kind. Was soll denn Franzi mit diesen Erklärungen anfangen? Du weißt doch selbst nichts. Alle hier scheinen nichts zu wissen.“ D. schwieg. Ein bedrückendes Schweigen setzte ein. Nur ein leises Geräusch kam von Franzi. Es klang wie Schluchzen oder Weinen.

Langsam und stockend sagte Franzi „Mama hat mir… immer vor dem Schlafen…gesagt, dass ich zum Herrn Jesus beten soll…Er behütet mich und alle Menschen…und irgendwann kommen…wir zu ihm. Sind wir jetzt…beim Herrn Jesus?“ „Diese Frage geht an Sie“, sagte F. und wendete sich an O. „Dafür sind Sie der Fachmann. Oder besser: Sie waren es.“ „Weißt du, Franzi“, begann er, „der Herr Jesus, oder Gott, passt immer auf alle Menschen auf, im Leben und im Tod…ähm. So beten wir immer…hm…haben wir gebetet. Ja, so sollten wir auch jetzt, als Nebel, beten. Wir sollten jetzt, hier, zu Gott beten und ihn bitten, dass er uns hilft, dass er uns zu sich holt.“

Ende

„Wirklich?“ fragte N. „Sollten wir? An welchen Gott? Wo ist er? Sieht es nicht so aus, dass alles, was uns die Pfaffen…Entschuldigung…die Pfarrer erzählt haben, Quatsch war?“ O.‘s Nebel wackelte hin und her. „Woher wollen Sie denn das wissen?“ fragte er entrüstet. „Wir Pfarrer lehren das, was in den Schriften steht und uns von den Vorfahren überliefert wurde. Natürlich wissen wir, dass vieles nur symbolhaft und nicht ganz wörtlich zu verstehen ist.“ „Ach so, das wissen Sie“, spottete N. „Schön, dass Sie überhaupt etwas wissen. Die Kirchen drehen doch alles so, wie sie es gerne hätten. Es wandelt sich im Laufe der Zeit. Die Gläubigen sollen glauben, gehorsam sein und eifrig spenden. Und die Herrschenden sollen zufrieden sein. Dann geht es auch der Kirche gut. Und wenn die gläubigen Menschen dann gestorben sind – klatsch – ist es aus mit der Erlösung und dem ewigen Leben. Wir alle – er sah in die Runde der anderen – geistern als Nebel hin und her. Schöne Bescherung. Und irgendwann verschwindet offenbar sogar der Nebel.“

Jetzt waren alle still. Auch das Schluchzen von Franzi hatte aufgehört.

Schließlich ergriff B. das Wort. „Es ist irgendwie lustig, dass sogar die Toten streiten. Wir haben jetzt viel gehört, Religiöses und Nichtreligiöses. Alle können glauben oder nicht glauben. Aber wie wird es weitergehen? Ist unsere Nebelzeit, die nach dem irdischen Tod beginnt, endgültig? Offenbar nicht, denn einige haben beobachtet, dass die Nebel irgendwann verschwinden. Aber was kommt dann? Kommt überhaupt etwas? Oder lösen sich die Nebel in ein Nichts auf? Verdunsten gewissermaßen? Vermischen sich mit der Atmosphäre in einer großen Suppe? Das sind doch buddhistische Gedanken, oder?“

„Es gibt sehr verschiedene Vorstellungen vom endgültigen Erlöstsein von den Wiedergeburten, sowohl im Buddhismus als auch im Hinduismus“, entgegnete O. „Im Grunde sind das alles Dinge, die über die menschliche Vorstellung hinausgehen. Egal, ob Nirvana oder Moksha, niemand kann es letztlich fassen und erklären. Deshalb gibt es so viele Richtungen und Varianten. Die Menschen suchen eben auch in den orientalischen Religionen, aber finden keine Lösung.“

„Aber wir sind doch jetzt schon so weit fortgeschritten“, sagte K. „Wir sind schon jenseits des irdischen Todes angekommen. Uns fehlt nur noch ein winziges Stück bis zur Erkenntnis. Irgendwie müssten wir das doch schaffen. Wie gesagt, wir müssten eigentlich nur wissen, wie die Nebel entstehen und wohin sie verschwinden.“

„Das hatten wir doch schon alles“, erwiderte F. „Wir drehen uns im Kreis und kommen einfach nicht weiter. Also können wir nur warten. Die Frage bleibt nach wie vor: Gibt es Gott? Was ist Gott? Wer sind wir? Was war vor uns? Was kommt danach? Immer wieder dieselben Fragen. Es ist einfach zum Verzweifeln.“

„Oh, das Licht“, rief plötzlich ein Nebel neben ihnen, den sie bisher kaum wahrgenommen hatten, weil er sehr blass und fast durchsichtig war. „Es kommt, es ist wahr, es…“ Schon war der Nebel verschwunden. Einfach weg. „Hallo Nebel“, rief A. „Kannst du uns hören?“ Es kam keine Antwort. „Aber er hat doch noch etwas gerufen, bevor er verschwand“, meinte B. „Ja, er hat gerufen ‚Oh, das Licht. Es kommt, es ist wahr‘“, sagte N. „Ich habe es genau gehört. Also scheint etwas daran zu sein, dass es noch etwas gibt. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Also scheint es Gott zu geben.“

Und noch lange diskutierten die Nebel, bis sie verschwanden und neue aufstiegen.

#erzählung #tod #sterben #glauben

Die unsterblichen Menschen – Eine Erzählung

Erzählung von Berndt Baumgart

Es begab sich, dass die Wissenschaft den Tod besiegte. Gegen alle Krankheiten gab es Impfungen. Niemand wurde mehr krank. Nach der Identifizierung des „Alterungsgens“ konnten sich alle menschlichen Zellen immer wieder erneuern. Der ersehnte Jungbrunnen war gefunden. Außer bei Unfällen oder Missetaten musste kein Mensch mehr sterben. Es hätte das Paradies sein können.

Aber Gott sah das mit Missfallen. Nicht nur, weil die Menschen keinen Glauben mehr hatten, außer dem an die Wissenschaft. Sie hatten sich auch über ihn erhoben; denn nach dem Sündenfall hatte er sie ja zur Sterblichkeit verdammt. Die Menschen waren jetzt selbst fast wie Gott geworden.

Gott handelte konsequent. Da die Sterblichkeit der Menschheit beseitigt war, holte er alle Menschen, die jemals gelebt hatten, auf den Erdball zurück. Sie kamen aus den Gräbern, den Höhlen, dem Reich der Toten. Asche setzte sich zusammen, formierte sich, und es entstanden wieder menschliche Körper. Die meisten Älteren kamen in der Gestalt ihrer jugendlichen Blüte, die Kinder in ihrer jugendlichen Form.

Insgesamt kamen 112 Milliarden Menschen gleichzeitig auf die Erde. Das konnte der Planet nicht verkraften. In den bewohnbaren Teilen der Kontinente traten sich die Leute buchstäblich auf die Füße. Es gab keine Nahrungsmittel für alle und viel zu wenig Trinkwasser. Viele fingen an, sich zu bewaffnen und um die wenigen vorhandenen Ressourcen zu kämpfen. Aber das dauerte nur wenige Tage.

Die Leichenberge häuften sich. Gestank überzog die Erde. Eine riesige Seuche befiel die Menschheit, vor der es kein Entrinnen gab. Aus dem Paradies war die Hölle geworden. Die wenigen Wissenschaftler und Ärzte konnten ihr Handwerk nicht mehr angemessen ausüben. Nach wenigen Wochen gab es keine Menschen mehr.

Sie waren ein interessanter, aber misslungener Versuch gewesen. Gott widmete sich nun schöneren Aufgaben.

Wanderergespräch Nr. 2

WANDERERGESPRÄCH Nr. 2

„Hallo,Sie haben eine große Kamera. Sind Sie von der Presse?“
„Nein, ich fotografiere nur zum Spaß.“
„Zum Spaß? Warum zum Spaß? Ist das eine Spiegelreflexkamera?“
„Nein, es ist eine Bridgekamera. Aber sie ist sehr einfach zu bedienen und recht leistungsstark. Ich fotografiere damit gerne Blumen, Tiere und die Natur. Das macht mir Freude.“
„Eine Spiegelreflexkamera ist immer besser. Es gibt gar nichts Besseres. Ich habe heute nur eine ganz kleine Digitalkamera für die Hosentasche dabei. Aber zu Hause habe ich mehrere Spiegelreflexkameras mit riesigen Objektiven.“
„Ach so, nun, mir reicht meine Bridgekamera. Sie hat einen 65fachen optischen Zoom und war recht preiswert. Damit gelingen mir manchmal tolle Schnappschüsse.“
„Ach, papperlapapp. Eine Spiegelreflexkamera ist immer besser, natürlich auch teurer. Und für Zoomaufnahmen braucht man ein Stativ.“
„Ich wollte aber keine Spiegelreflexkamera und keine Wechselobjektive. Das ist mir alles viel zu umständlich. Meine Bridgekamera ist genau das Richtige für mich. Ich habe ein Stativ, aber ich fotografiere alles aus der Hand. Manchmal verwackelt es, aber meistens klappt es.“
„Sie können halt nicht richtig fotografieren. Fotografieren ist eine Kunst.“
„Meine Fotos werden regelmäßig in der Presse als Leserfotos veröffentlicht. Auch habe ich schon einen Fotowettbewerb gewonnen.“
„Ja, von diesen neumodischen Bridgekameras habe ich auch mehrere. Aber meine Fotoausrüstung hat über 40.000 EUR gekostet.“
„Toll, und was machen Sie damit?“
„Ich bin in einem ganz exklusiven Fotografenclub. Darin dürfen nur maximal 10 Personen sein. Alles ältere Herren und alles Künstler. Sehr exklusiv.“
„Ich bin beeindruckt. Und weiter?“
„Wir treffen uns einmal im Monat, tauschen unsere Erfahrungen aus und zeigen uns die besten Fotos.“
„Und was noch?“
„Was noch? Wir essen etwas, trinken ein wenig, rauchen Zigarre, und dann freuen wir uns auf das nächste Treffen.“
„Ach so.“
„Eine meiner besten modernen Kameras ist eine Nikon Z7. Kostet schlappe 5000 EUR. Natürlich habe ich auch Linhof Kameras. Die kommen mit Zubehör auf bis zu 10.000 EUR. Davon können Normalsterbliche nur träumen.“
„Sie sind also ein toller Mann?“
„Na ja, ich bin bescheiden. Man muss ja nicht alles gleich so heraushängen.“
„Nun, wenn nichts mehr steht, dann muss es ja hängen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag und noch viele schöne Fotogespräche.“
„Was? Wie bitte?“

Die elfte Tiefebene

Die elfte Tiefebene

Er hieß Klaus Berger. Er lebte in der Stadt. Dort verdiente er sein Geld, verbrachte Stunden, Tage, Jahre. Schöne Zeiten erlebte er in ihr und weniger schöne. In der Freizeit verließ er ab und zu die Stadt und träumte davon, nie mehr in sie zurückkehren zu müssen. Bald kam er aber wieder; denn er lebte in der Stadt. Er lebte nicht alleine dort. Andere waren auch da. Er sah sie. Sie sahen ihn. Einander sahen sie kaum.

Klaus Berger lebte mit seiner Frau in einer Wohnung in der Stadt. Sie befand sich, zusammen mit anderen Wohnungen, in einem großen Haus. Die Bergers waren ein Teil der Wohnung, des Hauses und der Stadt, diese jedoch keine Teile von ihnen. Sie lebten in der Stadt, die Stadt nicht in ihnen.

Die Stadt war laut, bei Tag und bei Nacht. Der Tag und die Nacht waren künstlich. Zu Weihnachten war die Stadt weniger laut. Sie war warm. Im Winter fiel dort kein Schnee. Im Sommer kam kein kühlender Wind. Auch Vögel gab es in der Stadt. Sie waren fast tot. Manchmal schrien sie in der Nacht. Hunde gab es, wenige Katzen. Scheu schlichen sie um die Ecken. Ihr Leben war schmutzig. Sie hinterließen ihren Schmutz auf Straßen und Transportwegen, konnten ihn aber nicht entfernen. Auf glattem Boden war ihr Scharren sinnlos geworden. Je tiefer man in die Stadt kam, desto weniger Tiere gab es.

Schmutz war in der Stadt. Woher kam er? Aus den Häusern, aus den Tieren? Aus den Menschen? Man fand ihn überall – über und unter der Erde, in den Straßen, den künstlichen Parks, auf Plätzen, in den Transportmitteln, in der Kanalisation und an Stellen, die kaum ein Mensch kannte. Solche Stellen gab es viele, obwohl niemand so recht daran glaubte.

Täglich wurde die Stadt gereinigt. Der Schmutz wurde gesammelt und aus der Stadt herausgefahren. Doch die Stadt wurde nicht leer. Immer mehr Schmutz entquoll ihr, wie Eiter aus einer Wunde. Die Wunde heilte nicht. Frische Waren wurden täglich in die Stadt gefahren, Lebensmittel, hygienisch und sauber. Vor den Toren der Stadt hatte man den Schmutz wieder eingepackt.

Klaus Berger und seine Frau lebten langsam. Wenn die Zeit schön war, lebten sie schnell. Auch die Stadt lebte schnell. Ihr Herzschlag raste, aber es war das beschleunigte Herzklopfen eines Kranken, der mit schnellem Atem und jagendem Puls dennoch langsam lebt, eine schöne Zeit höchstens in seinen Fieberträumen empfindend.

Die Stadt wurde von zahlreichen Adern durchzogen, die dem schnellen Transport aller Dinge dienten. Das Versorgungsnetz funktionierte gut – in der Luft, auf der Erde und unter der Erde. Da über und auf der Erde aber viel zu wenig Platz, alles allem im Wege war, was auf Kosten der gewünschten Schnelligkeit ging, verlegte man sich mehr und mehr unter die Erde. Auch dort wurde der Platz knapp. So stieß man in immer tiefere unterschiedliche Bereiche vor, in denen sich der Transport in zunehmendem Maße vollzog.

Auch die Menschen benutzten mehr und mehr die Wege unter der Erde. Angefangen hatte es vor langer Zeit mit Untergrundbahnen. Inzwischen musste man aber immer tiefer hinab und brauchte desto länger, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. So kam es, dass möglichst viele der Plätze, welche die Menschen zu erreichen hatten, ebenfalls unter die Erde verlegt wurden – Geschäfte, Behördenstellen, Büros, Banken, Restaurants, Theater. Auf diese Weise konnten die Menschen schneller die nötigen und erwünschten Dinge erledigen. Weil aber an all diesen Stellen Personen arbeiteten, so erfolgte dadurch auch eine Verlegung von immer mehr Arbeitsplätzen unter die Erde. Dies führte dazu, dass eine stets größer werdende Anzahl von Leuten die unterirdischen Bereiche am Tage so gut wie nicht mehr verlassen musste. War dies jedoch notwendig, weil irgendeine Einrichtung nach wie vor über der Erdoberfläche ihren Sitz hatte, so wurden bald Stimmen laut, die sich darüber beschwerten, den Verantwortlichen dieser Institutionen Schikane vorwarfen und verlangten, dass man ihren Sitz, zumindest, was die Anlaufstellen betraf, unter die Erde verlegen sollte, wo man auch von den Menschen erreichbar wäre.

Dennoch wurden die vorhandenen Gebäude und Anlagen über der Erdoberfläche nach wie vor genutzt, da man noch nicht so weit vorangeschritten war, als dass man ganz auf sie hätte verzichten können. Diejenigen, die dort zu tun hatten, empfanden sich aber als benachteiligt, waren sie doch sehr daran gehindert, am wirklichen Leben, das sich unterirdisch abspielte, teilzuhaben. So führten zahlreiche senkrechte Schächte von allen Gebäuden hinunter in die Stadt, in der das Leben war. Sie dienten der schnellstmöglichen Beförderung von Personen und Sachen. Diese Transportart hatte man so weit vervollkommnet, dass es einfacher und schneller war, von einem Gebäude zu einem anderen, oft nur wenige Meter entfernten zu gelangen, wenn man den Weg unter der Erde wählte, als wenn man sich mühsam oberirdisch bewegte. Daher verwahrlosten viele Wege auf der Erde, die früher von Menschen begangen worden waren. Sie wuchsen mit gelbem Gras zu, und Risse bildeten sich in ihnen.

Auch die Wohngebäude wurden nach und nach mit den unterirdischen Stadtbereichen verbunden. Daher brauchte man nicht mehr den beschwerlichen Weg über der Erde bis zum nächsten Einstieg in die Unterwelt zu nehmen, sondern konnte sich direkt, durch senkrechte Schächte, ohne Umwege und mit größtmöglicher Geschwindigkeit, nach unten begeben.

*

Klaus Berger und seine Frau benutzten immer einen solchen Weg direkt aus ihrem Haus in die unterirdischen Stadtbereiche. Er arbeitete etwa zehn Transportminuten entfernt in der dritten Tiefebene im Büro einer Versicherungsgesellschaft, seine Frau fünf Transportminuten weiter oberirdisch in der Verwaltung einer Behörde. Zwar war sie nicht ganz glücklich über diesen etwas rückständigen Arbeitsplatz, seitens ihrer Amtsleitung hatte man aber wenigstens schon durchgesetzt, dass das Behördenhaus, so wie viele andere Gebäude, teilweise an die unterirdischen Gebiete angeglichen wurde. Man hatte es zu diesem Zwecke mit einer dicken, massiven, grünlichen Verkleidungsmasse kuppelförmig überformt, so dass es vollständig vor jeder natürlichen Licht- und Luftzufuhr, die einen an primitive oberirdische Verhältnisse erinnern konnte, geschützt war und gleichsam wie eine Beule unter der Haut aus dem unterirdischen Bereich herausragte. Lediglich die Tatsache, dass sie viele Ebenen in vertikaler Richtung zu durchqueren hatte, ehe sie an ihrem Arbeitsplatz eintraf, erinnerte Frau Berger noch an alte, rückständige Verhältnisse. Aber auch dies hatte durch besondere Schnelltransportschächte weitestgehend ausgeglichen werden können. Man war sogar so weit gegangen, dass man in den kleinen Kabinen, welche in den zu den oberen Bereichen führenden Schnelltransportschächten auf- und abwärts rasten, auf die ansonsten übliche Kontrollanzeige verzichtete, mit der den Menschen während des ohnehin nur Sekunden dauernden Schnelltransports ihre jeweilige Position angezeigt wurde. Auf diese Weise fiel es kaum auf, dass man sich so weit nach „oben“ begab, und es war nicht so sehr als „außen“ zu empfinden, wo man sich abgeschieden, ungeschützt und hilflos vorkam.

In den meisten Wohngebäuden litt man in ähnlicher Weise. Viele waren zwar schon, wie das Haus, in dem Frau Berger arbeitete, durch Überformungsmasse geschützt, daher auch recht hoch in den Mietkosten; den Luxus hingegen, ganz unter der Erde zu wohnen, konnten sich bisher nur einige wenige Privilegierte leisten. Zwar gab es schon seit Jahren Pläne, allen Menschen in Bereichen unter der fünften und sechsten Tiefebene Wohnraum zu verschaffen, ihre Verwirklichung war aber bisher immer an den Kosten gescheitert.

Das Ehepaar Berger traf sich regelmäßig zur Mittagszeit, um gemeinsam das Essen einzunehmen. Treffpunkt war ein Restaurant in der vierten Tiefebene, etwa zwei Transportminuten von Herrn Berger und vier von seiner Frau entfernt. Diese Unterbrechung des Tages bedeutete ihnen sehr viel. Sie fanden hierbei etwas „zu sich selbst“, wie sie sagten. Dies ging auch vielen anderen Leuten so; denn die Restaurants vermittelten neben der Verköstigung gleichzeitig eine Atmosphäre von Geborgenheit und Freiheit, wie man sie weder am Arbeitsplatz noch zu Hause hatte.

Die Restaurants bestanden aus vielen Kabinen verschiedener Größen, die man allein, zu zweit oder, was seltener vorkam, in kleinen Gruppen aufsuchen konnte. Die weitaus größte Anzahl bildeten somit auch die Einzel- und Doppelkabinen. Hatte man sie betreten, so konnten sie von innen hermetisch verschlossen werden. Ihre Ausstattung bestand aus variablen Ruhemöbeln, Auflageflächen für die Speisen, einem Sanitärabteil sowie einem Bestell- und Unterhaltungsautomaten.

Es gab Restaurants unterschiedlicher Kategorie. Die teuersten befanden sich in den tieferen Ebenen und unterschieden sich von einfacheren im Wesentlichen dadurch, dass man sich in ihnen wirksamer von der Außenwelt abschirmen konnte. Je stärker, sicherer und raffinierter sie sich abriegeln ließen, umso geborgener und wohler fühlten sich die Menschen darin.

Herr und Frau Berger trafen sich auch heute in ihrem Stammrestaurant in der vierten Tiefebene. Es gehörte zwar keiner besonders hohen Preisklasse an, denn das konnten sie sich nicht alle Tage leisten, war aber doch sicher genug abzuschließen, dass man sich darin bis zu einem recht hohen Grade unbeobachtet und gesichert fühlen konnte.

Klaus Berger gab eine Menüwahl in die Tastatur des Bestellautomaten ein, versehen mit seinem persönlichen Code. Die Bergers aßen, danach entkleideten sie sich, legten sich auf die Ruhemöbel und entspannten. An manchen Tagen schliefen sie nach dem Essen in der Kabine miteinander, was viele Paare taten, denen die oberirdischen Wohnungen zu ungeschützt dafür erschienen. Heute aber gaben sich ganz einem gesättigten, wohligen, matten Müdigkeitsgefühl hin. Den Unterhaltungsautomaten, der über eine Geräuschautomatik verfügte, die von den verschiedensten Musikarten über Waldesrauschen, Meeresbrandung, Gewittertosen bis hin zu Menschenunterhaltung und Schmerzensschreien alles bot, was man sich vorstellen konnte, stellten sie auf Stille. Nach einer Weile leichten Schlafes gingen sie in die kleine Sanitärkabine, erfrischten ihre Körper und zogen sich wieder an. Sie nahmen sich vor, am Abend ein Theater zu besuchen, eine Abwechslung, die eigentlich gar keine mehr war, da sie die meistverbreitete abendliche Beschäftigung für die Menschen in der Stadt darstellte.

Dennoch versprach dieser Abend außergewöhnlich zu werden. In einer neu erschlossenen Tiefebene, irgendwo am untersten Ende der allgemein bekannten Stadt, befanden sich neue Theater, die den Menschen höchste, neuartige Entspannung und Unterhaltung verschaffen sollten. So hieß es zumindest in den Nachrichtenprogrammen. Klaus Berger wollte versuchen, Zulassungsmarken für eines dieser Theater zu bekommen. Am Abend würde er dann mit seiner Frau gleich von der Arbeitsstelle in die neue Theaterebene fahren. Sie verabschiedeten sich voneinander.

Im Laufe des Nachmittages ging Klaus Berger zu einem Informationsautomaten. Er bediente einige Tasten, um die Theaternachrichten sichtbar zu machen. Auf den ersten Blick war nur das Übliche zu finden. Doch dann entdeckte er auf dem kleinen Bildschirm einen kurzen Hinweis, der einen bestimmten Code für „neue Theater“ bezeichnete. Er wählte die genannte Ziffernfolge und erhielt detailliertere Auskunft. Genannt wurden die Öffnungszeiten, die Einlassbedingungen und die Reservierungszentrale. Über das, was man dort sehen sollte, gab es entgegen der üblichen Gepflogenheit keine Auskunft. Die Sache versprach wirklich spannend zu werden. Klaus Berger wählte ein Theater in der elften Tiefebene, von dem er noch nie zuvor etwas gehört hatte. Nach Eingabe der Codes für sich und seine Frau erhielt er zwei Berechtigungsmarken für die Reservierungszentrale.

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Am Abend traf er seine Frau. Sie war mit seiner Wahl zufrieden, und sie beschlossen, sich sofort in die fünfte Tiefebene zu begeben, wo die Reservierungszentrale für das „neue Theater“ sein sollte. Während des nur wenige Minuten dauernden Transports durch einen Senkrechtschacht in die fünfte Tiefebene und durch Tunnel innerhalb der Ebene selbst unterhielten sie sich über das bevorstehende Programm und rätselten, was dort zu sehen sein könnte. Seit langer Zeit wieder freuten sie sich so richtig auf etwas. Die üblichen Theater hatten sie schon lange satt.

In den normalen Theatern befand man sich, ähnlich wie in den Restaurants, in Kabinen, die fest verschließbar waren. Sie fassten einen oder zwei Zuschauer und in Ausnahmefällen kleine Gruppen. Es war jedoch fast verpönt, mit mehr als zwei Personen eine Kabine zu benutzen. Die Abgeschiedenheit und Sicherheit, nicht zuletzt um derentwillen man ja überhaupt ins Theater ging, hätte man ansonsten wieder aufgegeben.

Gezeigt wurde in den Theatern meist aktuelles Geschehen. Zweidimensional, selbstverständlich mit Ton, manchmal aber auch ohne, wenn es bessere Effekte versprach, erschien alles auf einem wandgroßen Farbbildschirm. Immer beliebter wurde es aber, das Geschehen dreidimensional, in die Mitte der Kabine, zu projizieren, wobei man herumgehen und es von allen Seiten betrachten konnte.

Real war das Theater. Mit dem, was in früheren Jahren darunter verstanden worden war, hatte es nichts mehr zu tun. Es wäre tödlich langweilig gewesen, irgendwelche „Stücke“ zu projizieren, von denen man genau wusste, dass sie nicht tatsächlich und zwar jetzt oder fast jetzt – kleine Zeitverschiebungen waren erlaubt, in erstklassigen Theatern aber nicht gern gesehen – geschahen. Die Menschen wollten Anteil haben an dem, was in der Welt, vor der Stadt, aber vor allem in der Stadt mit ihren vielen Tiefebenen gerade geschah. Hatte man im täglichen Leben durch die nahezu vollständige Automatisierung und persönliche Isolierung kaum eine Möglichkeit mehr zu irgendeiner Kontaktaufnahme untereinander, im Theater war man direkt bei dem, was zur Zeit vor sich ging, ohne die Risiken und Unannehmlichkeiten der persönlichen Begegnung und direkten Konfrontation. Es war also nicht verwunderlich, dass die Theaterbesucher meist menschliches Geschehen sehen und miterleben wollten. Zwar gab es auch Projizierungen von Tieren, Weltraumunternehmungen oder herausragenden technischen Ereignissen, aber wenn es sich hierbei nicht gerade um Sensationen oder gewaltige Katastrophen handelte, bestand kaum ein Interesse dafür.

Am beliebtesten war also das menschliche Theater. Zum Beispiel konnte man Einblick nehmen in Büros, wo einzelne Menschen in kleinen Arbeitskabinen saßen und ihrem Tagewerk nachgingen. Die Beschäftigten in den Büros wussten davon und bekamen dafür, dass sie während ihrer Arbeit im Theater zu sehen waren, einen Zuschlag auf ihr Gehalt. Man konnte aber auch Menschen in Transportmitteln beobachten, auf dem Weg durch die verschiedenen Ebenen. Von einer besonderen Regelzentrale wurden dabei automatisch Szenen projiziert, die irgendwie interessant erschienen; wenn zum Beispiel jemand im Transportsystem einen Herzanfall bekam, Leute in Streit gerieten oder sich im Gewirr der Tunnel und Schächte nicht zurechtfanden und verzweifelt umherirrten. Ein ganz besonderer Genuss wurde der Theaterbesuch, wenn es irgendwo zu einem Unfall oder gar zu einer Katastrophe kam. Solche Ereignisse wurden sofort in die Projektion gesteuert, und manchmal konnte man in allen Einzelheiten das Verbluten und Sterben von Menschen und die Arbeit der Hilfskräfte beobachten, während man in seiner Kabine, allein und wohlgeschützt, um die dreidimensionale Raumprojektion herumging.

Sehr gerne besucht, wenn auch sehr teuer, waren Theater, in denen das Verhalten von Menschen an Orten gezeigt wurde, an denen sie sich vollkommen abgeschirmt und unbeobachtet fühlten, zum Beispiel in ihren Wohnungen, in Restaurants und Toiletten. Wer öffentliche Toiletten aufsuchte, dem war klar, dass er dabei unter Umständen beobachtet werden konnte; erheiternd war es dennoch, jemandem zuzuschauen, der sich in einer Toilettenkabine befand, umhersuchend, wo möglicherweise eine Beobachtungsanlage installiert sein könnte. Diese aufzufinden war natürlich sehr schwierig; denn winzige Punkte irgendwo in der Kabine, kleiner als ein Stecknadelknopf, mit dem bloßen Auge kaum sichtbar, konnten Beobachtungsstellen sein. Sah dann der Theaterzuschauer, wie der Toilettenbesucher mit mitgebrachtem Klebeband eine Stelle abdeckte, die er „identifiziert“ zu haben glaubte, die aber nicht die richtige war, so erfuhr das Betrachten des sich unbeobachtet Glaubenden , den man inmitten seiner Theaterkabine hatte, die Steigerung zum wahrhaften Erlebnis.

Restaurantbesuchern ging es nicht viel anders. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dort beobachtet zu werden, umso geringer, je höher die Preisklasse gewählt wurde, aber ganz sicher konnte man nie sein. Deshalb wiesen Schilder an guten Restaurants ausdrücklich darauf hin, dass man hier „absolut unbeobachtet“ wäre. Man konnte auch nach dem Betreten und hermetischen Verschließen der Restaurantkabine noch zusätzliche Sicherungsvorrichtungen, Gleitwände, Folien und dergleichen anbringen und sich dann wirklich allein und unbeobachtet fühlen. Mancher brachte sich sogar seine eigenen Abdeckutensilien aus besonderem Material mit, von denen es hieß, sie würden alle Beobachtungsversuche vereiteln, und an die er glaubte.

In teuren Theatern wiederum wurde nun gerade versucht, in diese Räume Einblick zu bekommen, die als besonders sicher galten. Immer neuere und verfeinerte Methoden wurden gefunden, mit denen man auch bestgesicherte Plätze durchdringen konnte.

Gleiches galt für Wohnungen. Auch hier konnte man davon ausgehen, dass sie umso sicherer waren, je mehr sie kosteten. Dennoch gab es tagtäglich in den Theatern Menschen zu beobachten, wie sie in ihren Wohnungen aßen, tranken, sich an- und auszogen, sexuell verkehrten, zur Toilette gingen, schliefen – und manchmal redeten. Und nur in den teuersten, besten Theatern vermochte man in die teuersten, besten Wohnungen Einblick zu nehmen.

Zwei Berufsgruppen hatten sich in der Stadt herausgebildet: die „Tarner“ und die „Enttarner“. Sie standen in ständigem Wettstreit miteinander und versuchten, sich auf immer ausgeklügeltere Weise gegenseitig zu übertreffen. Während die Tarner ihre teuren Dienste anboten, um alle nur denkbaren Plätze bestmöglich gegen jede Art von Ausspähung abzuschirmen, versuchten die Enttarner genau das Gegenteil – in öffentlichem Auftrag. Die Theater gehörten der Allgemeinheit.

Die Menschen hatten sich diesen Verhältnissen weitestgehend angepasst. Fast jeder war Klient eines persönlichen Tarners, wobei sich die ganz Reichen die berühmtesten Tarner leisten konnten. War alles nur denkbar Mögliche für die Tarnung getan, dann verhielt sich die überwiegende Mehrheit der Leute so, als wären sie vollkommen unbeobachtet. Natürlich gab es einige wenige, die man als „krank“ bezeichnen konnte. Sie litten unter dem Wahn, immer und überall beobachtet zu werden und benahmen sich an den üblichen, menschlichen Aufenthaltsorten oft nahezu grotesk – zur besonderen Erheiterung der Theaterbesucher. Für solche Menschen gab es ärztliche Behandlung, auch wurden ihnen mit behördlicher Unterstützung besonders qualifizierte Tarner zur Verfügung gestellt, dies aber nur in wirklich nachgewiesenen Ausnahmefällen; denn es gab manchen Simulanten, der sich nur krank stellte, um auf billige Art und Weise einen guten Tarner „verordnet“ zu bekommen.

Eine weitere Gruppe von Außenseitern waren die so genannten „Schauspieler“, denen es besondere Freude bereitete, ihr Verhalten so einzurichten, als ob sie ständig und überall beobachtet und in irgendwelchen Theatern projiziert würden. Obwohl sie nie die Dienste eines Tarners in Anspruch nahmen. Denn sie genossen es ja geradezu, im Theater „aufzutreten“, und obwohl sie in finanzieller Hinsicht recht wenig zur Entwicklung des Gemeinwesens beitrugen, stellten sie keinerlei Gefahr dar und wurden durchaus toleriert: Einerseits handelte es sich hier nur um eine kleine Gruppe, andererseits aber war die Wahrscheinlichkeit recht gering, dass sie auch wirklich in einem Theater gezeigt wurden und den Zuschauern durch ihr auffälliges Gehabe den Spaß verdarben. Es gab viel zu viele Menschen in der Stadt, als dass alle projiziert werden konnten. Geriet doch einmal ein Schauspieler in die Projektion, dann wurde er mangels Interesse nicht lange im Bild festgehalten.

Schon unerwünschter war die Außenseitergruppe der sogenannten „Antis“. Infolge ihres gemeinschädlichen Verhaltens galten sie als gefährlich. In gewissem Rahmen wurde ihr Benehmen geduldet; teilweise nahmen ihre Aktivitäten aber strafwürdige Ausmaße an. Die harmloseren unter ihnen wurden noch den Schauspielern zugerechnet, die um jeden Preis auffallen wollten. Oft verhielten sich Antis an menschlichen Aufenthaltsorten im Großen und Ganzen normal, führten nur ab und zu Reden, in denen sie ihr Missfallen an der Stadt und ihrer Organisation äußerten. Schlimmer wurde es schon, wenn sie sich auch entsprechend benahmen, wenn zum Beispiel zwei Antis in einer Wohnung mitten im Gespräch (sie sprachen viel miteinander) Dinge äußerten wie „wenn uns jetzt jemand zuhört oder zusieht, dann soll er sich überlegen, ob ihm vielleicht nicht eher damit gedient wäre, zu uns zu kommen und mit uns zu reden als sich zu verstecken.“ Dergleichen wurde aus verständlichen Gründen nicht gerne gesehen – der Theaterbesucher, der seine verdiente Belustigung haben wollte, konnte hierdurch verärgert und bei labilem Charakter möglicherweise sogar verunsichert werden. Aber nur in Ausnahmefällen schritt die Administration ein. Aufenthaltsorte von als Antis bekanntgewordenen Personen wurden unter besonderer nicht öffentlicher Beobachtung gehalten und nur noch dann projiziert, wenn sich diese Menschen in unbedachten Augenblicken in einem für jeden Zuschauer klar erkennbaren ungünstigen und verabscheuungswürdigem Licht zeigten.

Unnachgiebig geahndet wurde es, wenn Antis versuchten, gewaltsam Sabotage an Beobachtungseinrichtungen zu verüben, Enttarner beschimpften oder bei der Arbeit behinderten oder anderen Menschen Gespräche aufzwangen. Immer wieder wurden Plätze entdeckt, an denen Antis in unerwünschten Gruppen versammelt waren oder miteinander sprachen. Zwar war es nicht direkt verboten, sich in Gruppen aufzuhalten, es galt aber als sittlich anstößig, und die Administration behielt es sich vor, solche Ansammlungen jederzeit aufzulösen. Diese Regelung erschien genügend, denn rechtschaffene Stadtbewohner hielten sich sowieso nie in Gruppen auf. Geschah dies doch einmal, weil es für eine Arbeit, die mehrere gemeinsam verrichten mussten, zur Herbeiführung einer Entscheidung oder dergleichen unerlässlich war, so suchte man hierfür spezielle Örtlichkeiten auf, an denen man die Allgemeinheit möglichst wenig störte und trennte sich, sobald es wieder möglich war. Auf jeden Fall trugen solche „Arbeitsgruppen“ stets Sorge dafür, dass sie nicht mit Antis zu verwechseln waren, oft schon genügten hierfür gemeinsame Arbeitskleidung, Werkzeuge, Arbeitsmappen oder ähnliches. Einigen wenigen Antis, die sich als echte Arbeitsgruppen getarnt hatten, waren in letzter Zeit größere Sabotageakte geglückt, aber man hatte sie bisher fast alle ausfindig machen und eliminieren können.

Jedenfalls trugen diese Entwicklungen der letzten Zeit mehr und mehr dazu bei, den Stimmen Recht zu geben, die für eine vollständige Beseitigung der Antis sprachen. War man bisher davon ausgegangen, dass es besser wäre zu wissen, wo Antis sich versammelten und aufhielten als sie durch administratives Einschreiten zu vertreiben und ihre neuen Verstecke erst wieder ausfindig machen zu müssen, neigte man jetzt mehr der radikaleren Meinung zu. Über die Erfolgsaussichten einer solchen Säuberungsaktion bestanden an den verantwortlichen Stellen aber mehr Zweifel, als man offiziell zugab. Antis gab es viele, und sie waren schlau. So ließ man nach außen verlauten, es gäbe momentan keinen zwingenden Grund, den Antis zu Leibe zu rücken und wies darauf hin, dass ihr widernatürliches Verhalten doch immer wieder Gelegenheit zu recht erheiternden Projektionen für die Theater gäbe, eine Perspektiv e, auf die die große Stadt eigentlich nicht verzichten sollte. Manchmal war auch vom notwendigen „abschreckenden Beispiel“ die Rede.

Die überwiegende Mehrzahl der Menschen jedoch lebte vollkommen normal, allein oder zu zweit, den städtischen Gepflogenheiten entsprechend, und fühlte sich wohl dabei. Man hatte seinen Tarner und ging deshalb davon aus, zu Hause, im Restaurant und im Theater nicht beobachtet zu werden. Schließlich sah man im Theater immer nur andere Menschen, nie sich selbst; denn es wurde nur gleichzeitiges Geschehen projiziert. Mit anderen Personen, die einen womöglich im Theater gesehen haben konnten, kam man so gut wie nie in Kontakt: Die Transportmittel, Restaurants, Einkaufskabinen, Arbeitsplätze und Wohnungen waren fast ausschließlich für allerhöchstens zwei Personen vorgesehen, wobei es auch Paare vorzogen, recht oft voneinander getrennt zu sein und ihre Zweisamkeit nicht allzu übermäßig zu strapazieren.

Zwar konnte es vorkommen, dass sich Menschen, insbesondere Paare, irgendwann einmal als Einzelperson gesehen hatten, aber dies geschah sehr selten und spielte schon deshalb nur eine unbedeutende Rolle für das eigene Bewusstsein, weil die andere Person nie darüber sprach. Dies war ein ehernes Gesetz.

Zur allgemeinen Beobachtung hatten die Menschen eine ähnliche Einstellung wie zum Sterben: Jeder wusste, dass er im Prinzip jederzeit projiziert werden konnte und dies sicherlich auch einmal werden würde – trotz aller Tarnanstrengungen – niemand jedoch hatte sich selbst projiziert gesehen.

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Klaus Berger und seine Frau befanden sich in der fünften Tiefebene auf dem Wege zur Reservierungszentrale. Sie hatten eine Zweiertransportkabine bestiegen, den Zielcode eingegeben und glitten durch das Tunnelsystem, lautlos und schnell. Nachdem der kleine Personenbehälter zum Stillstand gekommen war, stiegen sie aus und betraten durch eine Schleuse einen Kasten, dessen Türen sich sogleich hinter ihnen schlossen. Hier brauchte keine neue Zielbestimmung eingegeben zu werden; er setzte sich automatisch in aufwärtiger Richtung in Bewegung, bemerkbar am Körpergewicht, das nach unten drückte, verließ aber nicht die fünfte Tiefebene, wie die Kontrollanzeige angab. Nach einigen Sekunden blieb der Transportkasten stehen. Die Türen öffneten sich nicht.

Klaus Berger beunruhigte dies keineswegs; denn dies war durchaus nicht unüblich. Bei Transportmitteln, die zu Plätzen der allgemeinen Benutzung führten, war vielfach eine Steuerung vorhanden, die dafür sorgte, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig zu diesen Plätzen gelangten. Aus der Erkenntnis früherer Zeiten, dass größere Ansammlungen von Menschen, Schlangen, Gedränge zum Ausbruch aggressiven Verhaltens führen können, hatte man dafür gesorgt, dass ankommende Kabinen meist so lange in einer Art von „Warteraum“ blieben, bis ihren Benutzern freier und ungestörter Zugang zu den gewünschten Plätzen garantiert werden konnte. In den Kabinen war dann ein entsprechender Hinweis vorhanden, so auch hier. Eine Schrift leuchtete auf: „Bitte warten – Zutrittskoordination“.

Bald verlosch die Schrift. Die Türen der Transportkabine öffneten sich und gaben den Weg auf eine lange Reihe von mannshohen, schrankenähnlichen Kästen frei, mit Zahlen, Tasten, Symbolen, Ein- und Ausgabeschlitzen, Bildschirmen und Lautsprechern – die Reservierungszentrale.

Klaus Berger nahm seine am Nachmittag besorgten Berechtigungsmarken zur Hand. Sie trugen die Aufschrift – 85-C-. Ein Blick auf die Automaten vor ihm ergab, dass diese zum Komplex „-A-„ gehörten. Ein Pfeil am Ende der Reihe von Kästen wies in die Richtung eines Ganges und trug die Aufschrift B – L. Er begab sich also in die bezeichnete Richtung. Seine Frau zog es vor, in einer kleinen Wartekabine in der Nähe des Eingangs zu bleiben; denn es genügte, wenn einer von ihnen eine Zwei-Personen-Zutrittsmarke für das Theater besorgte. Die Tür der Wartekabine schloss sich, Frau Berger setzte einen Unterhaltungskopfhörer auf, nahm auf dem bequemen Stuhl in der kleinen Kabine Platz und lauschte den aus dem Kopfhörer dringenden, heutzutage nur selten zu hörenden Klängen eines Stückes von „Beethoven“ oder wie dieser antiquierte Tontechniker hieß, erstaunt, aber nicht ohne Vergnügen.

Klaus Berger ging also bis zum Ende des A-Ganges, dem Pfeil nach, der in die Richtung B – L wies und befand sich nach wenigen Schritten vor einer Tür, die sich bei seinem Herantreten geräuschlos öffnete. Es war die Tür eines winzigen Transportbehälters, gerade groß genug für eine Person. Er dachte daran, dass seine Frau gar nicht hätte mitkommen können und sowieso in der Wartekabine hätte bleiben müssen, ging in den Transportbehälter, und die Tür schloss sich hinter ihm. Er drückte auf eine Taste mit der Aufschrift „C“. Die Kabine setzte sich in Bewegung. Klaus Berger hatte das Gefühl, dass es einen Moment lang geradeaus und dann für einige Sekunden abwärts ging. Die Kabine hielt an, die Tür öffnete sich. Wieder war eine Reihe von Kästen zu sehen, wie schon beim Eintritt in die Reservierungszentrale. Sie trugen jedoch hier die gewünschte Aufschrift „C“. Schnell war der Automat mit der Nummer 85 gefunden. Klaus Berger steckte die beiden Berechtigungsmarken in einen Schlitz, gab die persönlichen Geheimnummern von sich selbst und seiner Frau in eine Tastatur ein und erhielt an der Ausgabestelle eine größere Zutrittsmarke, die offenbar für eine bestimmte Zwei-Personen-Theaterkabine vorgesehen war, der Aufschrift nach in der elften Tiefebene.

Zurück ging es zu der winzigen Transportkabine und in Richtung der A-Reihe, wo Frau Berger wartete. Doch zunächst gab es einen Aufenthalt. Die Schrift leuchtete auf: „Bitte warten – Zutrittskoordination“. Klaus Berger wartete. Nichts geschah. Die Schrift verlosch. Jetzt hätte sich die Tür öffnen müssen. Sie blieb verschlossen. Er drückte die Störungstaste. Daraufhin setzte sich die Kabine wieder in Bewegung. Diesmal dauerte die Fahrt etwas länger. Es ging abwärts, wohin, war nicht ersichtlich. Bei den kleinen Transportbehältern, die nur der Beförderung innerhalb der Ebenen selbst dienten, war eine Positionsanzeige entbehrlich, da man ohnehin wusste, wo man sich befand.
Klaus Berger wusste es nicht mehr. Die Fahrt endete, die Tür öffnete sich. Er war in der siebten Tiefebene.

*

Horst Jansen befand sich mit seiner Freundin in einer Theaterkabine in der zehnten Tiefebene. Eigentlich fühlten sich die beiden dort etwas fehl am Platze; denn es war ein sehr teures Theater, normalerweise nur den reichen Leuten und führenden Persönlichkeiten der Stadt vorbehalten. Aber heute war der Jahrestag ihres Zusammenlebens, und dafür war Horst Jansen nichts zu teuer gewesen.

Nun verfolgten sie allerhand Geschehen. Zuerst sahen sie einen Mann in einem Restaurant, seiner Kleidung und dem Luxus der Restaurantkabine nach zu urteilen, einen vornehmen Mann, der offenbar glaubte, sich sehr gut getarnt zu haben. Nachdem er die Tür hermetisch verschlossen und alle Wände der Restaurantkabine einem prüfenden Blick unterzogen hatte, nickte er zufrieden mit dem Kopf und ließ einem inneren körperlichen Überdruck aus allen Richtungen und geräuschvoll freien Lauf. Er wählte ein Menü, das er äußerst schmatzend verzehrte, nachdem er seine Hose der Bequemlichkeit wegen geöffnet hatte, denn er war sehr dick, und dann begab er sich zur Ruhe. Anscheinend fehlte ihm aber doch noch etwas zur vollkommenen Zufriedenheit; denn er stand wieder auf, entkleidete sich gänzlich, was ganz gewiss kein appetitlicher Anblick war und – onanierte. Horst Jansen und Freundin, die das Geschehen zunächst zweidimensional auf dem Bildschirm verfolgt hatten, schalteten bei der letzten Szene auf „dreidimensional“ um und konnten nun den unappetitlichen Restaurantbesucher bei seiner einsamen Beschäftigung inmitten ihrer Theaterkabine sehen. Jansens Freundin kicherte. Nachdem sich der dicke Mann endgültig zum Verdauungsschlaf begeben hatte, blendete die Szene aus und, wieder zweidimensional, verfolgten Jansen und Freundin ein erregtes Gespräch einer Gruppe von sieben Personen, bei denen es sich offenbar um Antis handelte. Der Auftritt war widerwärtig, er zeigte nur allzu deutlich, wie wenig diese Leute doch in der Lage waren, allein mit sich selbst zurechtzukommen. Sie fingen nach kurzer Zeit einer immer erregter werdenden Diskussion an zu schreien, und für einen Moment sah es so aus, als wollten sie sich schlagen. Nichts von der Ruhe, Gelassenheit und Ausdruckslosigkeit, wie man sie bei normalen Menschen fand, war auf ihren Gesichtern zu sehen. Fast auf jede Bemerkung einer Person reagierten die anderen mit Gefühlsausbrüchen. Alle redeten durcheinander, bis niemand mehr dem anderen zuhörte. Schließlich fing eine der Frauen aus der Gruppe an zu weinen; die anderen hielten in ihrer Auseinandersetzung inne und sahen zu ihr hin – da blendete das Bild aus. Horst Jansen und seine Freundin, die sich noch nie recht Gedanken darüber gemacht hatten, empfanden beide, jeder für sich, ohne Worte gebrauchen zu müssen, Abscheu vor der gezeigten Situation; es war gut, dass nicht noch mehr von der „Anti-Versammlung“ gezeigt worden war, wer weiß, was noch an Widerwärtigkeiten gekommen wäre.

Nach dem Auftritt der Antis wurden offensichtlich irgendwelche Abwässerkanäle der Stadt in die Kabine projiziert; man sah eine riesige Anzahl von Ratten, die über einen großen Hund herfielen, der auf irgendeine Weise dorthin gelangt sein mochte. Es war anscheinend ein naturwissenschaftlicher Beitrag, interessant und lehrreich. Man konnte sehen, wie Tausende von Ratten einen lebenden Hund in Minutenschnelle bis auf die Knochen abnagten Horst Jansen war noch nie zu Ohren gekommen, dass es so etwas überhaupt gab. Von dem Vorhandensein so vieler Ratten in der modernen Stadt war er überrascht. Sehr viel Schmutz musste es in der Stadt geben.

Im Anschluss an die Rattenprojektion erschien wieder ein einzelner Mann von etwa Ende 50 Jahren auf dem Bildschirm, der sich in einer Transportkabine befand und dort offenbar mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Ältere Menschen sah man ganz selten. Der Mann hielt eine Zulassungsmarke für eine Theaterkabine in der Hand, drückte einen Knopf und blieb in der Kabine gefangen, da sich ihre Tür nicht öffnete. Dann betätigte er den Störungsknopf, worauf die Kabine wieder losfuhr. Kurz darauf hielt sie nochmals, aber, wie es schien, an einem Ort, zu dem der Mann nicht hingewollt hatte. Sein Verhalten wirkte auf Horst Jansen und seine Freundin äußerst erheiternd. Es bestand ein seltsam unwirklicher Kontrast zwischen dem verkniffenen, entschlossenen Gesichtsausdruck des Mannes und seinen unbeholfenen, fahrigen Bewegungen. Er verließ die Transportkabine, blickte sich suchend um, sah eine Aufschrift „siebte Tiefebene“, schüttelte den Kopf und verharrte nachdenklich. Dann wollte er in die Transportkabine zurück, die jedoch inzwischen ohne ihn wieder abgefahren war. Der Mann lief los, ziellos einige Gänge entlang, immer schneller werdend, als suchte er etwas. Er machte den Eindruck, als habe er es aus irgendeinem Grund sehr eilig. Aufatmend hielt er inne, als er an eine Senkrechtschachtanlage kam. Er betätigte die Tastatur, eine Kabine erschien, und der Mann verschwand darin. Aber den Augen der Beobachter war er nicht verborgen. Sie konnten ihn weiter verfolgen, während sich die Kabine mit ihm abwärts bewegte und Schweißperlen auf seiner Stirn erschienen. Der Mann hatte augenscheinlich in seiner Eile einen falschen Zielcode eingegeben und nahm nun mit fliegenden Händen eine Korrektur an der Tastatur in der Kabine vor.

*

Klaus Berger zwang sich mit Gewalt zur Ruhe. Bisher hatte er sich überall in der Stadt ohne Schwierigkeiten zurechtgefunden, in allen möglichen Ebenen war er gewesen, kannte die Zielcodes von Hunderten von Plätzen auswendig und hatte sehr oft schon die Zuverlässigkeit und die Schnelligkeit der Transportmittel gelobt. So etwas wie heute war ihm noch nicht vorgekommen. Und seine Ehefrau wartete doch auf ihn, in der fünften Ebene, am Eingang der Reservierungszentrale. Sicherlich wurde sie schon ungeduldig. „Wenn doch nur jemand da wäre“, durchfuhr es seinen Kopf, ein Gedanke, der ihm bisher gänzlich fremd gewesen war.

Aber seine Korrektur schien Erfolg gehabt zu haben. Jetzt hatte er, wie es schien, den richtigen Code für die Reservierungszentrale eingegeben. Die Kabine hielt, und Klaus Berger befand sich in der fünften Ebene. Er fand eine Schleuse, die zu Transportkästen führte, betrat einen Kasten, die Türen schlossen sich, die Fahrt ging in verschiedene Richtungen, der Kasten hielt, die Türen öffneten sich, und Klaus Berger befand sich wieder in der Reservierungszentrale. Zwar war es noch nicht die A-Reihe, wo seine Frau auf ihn wartete, sondern die E-Reihe, aber das Schlimmste war geschafft. Mit hastigen Schritten ging Klaus Berger an den Kästen vorbei und stolperte fast über eine andere Person, die eine Tastatur bediente und ihm ob dieser ungewöhnlichen und belästigenden Störung vorwurfsvoll nachsah. Am Ende der Reihe von Kästen waren zwei Pfeile zu sehen. Einer deutete in Richtung F – L, der andere in Richtung A – D. Diesem folgte er, kam zu einer der kleinen Transportkabinen, betrat sie, drückte eine Taste mit der Aufschrift „A“ und wartete. Dann ging ein kleiner Ruck durch die Kabine. Sie setzte sich in Bewegung. Klaus Berger empfand die Atemluft in den winzigen Raum als stickig. Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Am Hals spürte er seinen Pulsschlag. Aus irgendeiner unerklärlichen Angst, keine Luft zu bekommen, atmete er unnatürlich tief ein, fast, als wollte er die Luft trinken, hielt den Atem etwas inne und stieß ihn dann schnell und heftig wieder aus, als ob er die verbrauchte Luft umgehend wieder loswerden wollte. Ein leichtes Schwindelgefühl bemächtigte sich seiner. Doch er kam nicht dazu, über die tieferen Ursachen seines momentanen Unwohlseins weiter nachzudenken: Es hatte praktisch nur eines einzigen Atemzuges bedurft, bis die Kabine am Ziel war – der Reihe A der Reservierungszentrale.

Frau Berger war nicht mehr da. Die Wartekabine, in der sie sich befunden hatte, war leer. Die Tür stand offen. Klaus Berger blickte auf seine Uhr: Zwanzig Minuten waren vergangen, seitdem er von hier aufgebrochen war, um schnell die Zutrittsmarke in der Reihe C der Reservierungszentrale zu holen. Ihm war diese Zeit viel länger vorgekommen; er hatte insgeheim schon befürchtet, dass seine Frau nicht mehr da wäre. Aber warum sollte sie nicht mehr da sein? Sie hatte doch keine Berechtigungsmarke – folglich konnte sie in der Reservierungszentrale auch keine Zulassungsmarke für eine Theaterkabine besorgt haben. Und außerdem hatten sie doch ausdrücklich zusammen ins Theater gehen wollen. In die elfte Tiefebene, die ihnen beiden gänzlich neu war.

Klaus Berger zwang sich dazu, klar und logisch zu denken. Nur so konnte er seiner Lage und der wild durch seinen Kopf jagenden Gedanken Herr werden. Schließlich war er darauf geschult worden, Situationen schnell, folgerichtig und eindeutig erfassen zu können. Die hochentwickelte Automatisierung in der Stadt hatte dies zu einer Notwendigkeit werden lassen. Und überdies war es doch wirklich nichts Besonderes, dass seine Frau nicht da war. Jeder war es gewohnt, sich allein zurechtzufinden, viel mehr noch: Man war eigentlich lieber allein als zu zweit. Die Regelung, dass die Restaurants, Transport- und Theaterkabinen fast ebenso häufig als Doppel- wie als Einzelkabinen ausgelegt waren, erschien einer breiten Mehrheit der Bevölkerung sowieso als längst überholungsbedürftig. Die vorwiegend paarweise Lebensführung brachte im Grunde doch mehr Schwierigkeiten und Nachteile als Vorzüge. Man war es nicht gewohnt, tagsüber zu sprechen, ausgenommen vielleicht die Stimmeingabe in Mikrofone mancher Automaten. – Von dieser Art der Nachrichtenübermittlung, so hoch sie vor längerer Zeit auch gelobt worden war, hatte man sich aber wieder mehr und mehr entfernt. Die menschliche Sprache und Stimme war einfach nicht exakt, klar , wohlgesetzt und logisch genug, um von Maschinen immer in eindeutiger Weise erfasst werden zu können. Der Mensch konnte nicht dazu gebracht werden, gleichförmige Laute hervorzubringen, die akustisch klar genug aufnehmbar waren, ohne zu große Schwankungen in der Tonlage zu reden und sich auf ein genau festgelegtes Vokabular zu beschränken, das die Maschine wirklich beherrschte. Mit hochqualifizierten Stimmerkennungsmaschinen hatte man in der Vergangenheit zwar erstaunliche Erfolge erzielen können, bis hin zum fast vollwertigen Gesprächspartner waren Roboter entwickelt worden, aber immer wieder hatte es verheerende Fehler und Missverständnisse gegeben. Ein ähnlich klingendes Wort, falsch ausgesprochen, ein Wort mit doppelter Bedeutung, vom Roboter in der nicht gewollten Auslegung erfasst, hatten zu schweren Rückschlägen geführt. So war man dazu übergegangen, nur noch sehr einfache Maschinen, bei denen nur wenige ganz bestimmte Laute gespeichert waren, mit Stimmeingabe zu bedienen. Viel lieber arbeitete man mit Tastaturen, mit festgelegten Symbolen und Codierungen, die manuell bedient wurden; denn sie waren unmissverständlich, genau und konnten in Komplexen zusammengefasst werden.

Wenn die Sprache aber schon bei Robotern höchster Entwicklung, auf unmissverständliches Verstehen mit allen nur denkbaren Auslegungen programmiert, zu Fehlleistungen führte, wieviel schädlicher war sie dann erst im Verkehr der Menschen untereinander, die alles noch durch den verfälschenden Filter ihrer nicht immer zu unterdrückenden Gefühle aufnahmen…

An all das dachte Klaus Berger im Zusammenhang mit seiner Frau. Ja, er war es wirklich nicht gewohnt, zu sprechen. Er bewegte sich, seinen Körper, seine Finger, Arme und Beine, er benutzte Augen und Ohren, um optische und akustische Signale aufzunehmen und fand sich gut in seiner Umwelt zurecht. Ebenso erging es sicherlich seiner Frau. Doch wenn sie beide zusammen waren, dann überfiel ihn eine Art von Beklemmung. Er fühlte sich manchmal gewissermaßen verpflichtet, mit seiner Frau zu sprechen; langes Schweigen, das doch eigentlich normal und angemessen war, wenn es nichts zu sagen gab oder beide einfach nachdachten, erschien ihm dann als unnatürlich. Dabei war es doch das eigentlich Unnatürliche, sich überhaupt erst in eine solche Situation zu bringen, die die Realität auf den Kopf stellte!

Die den Abbau der Zweierbeziehungen fordernden Stimmen schienen wirklich recht zu haben. Das Leben allein brachte weitaus weniger Schwierigkeiten mit sich – war es schon mühsam genug, eine Person zusammenzuhalten, wieviel anstrengender erschien es, zwei Menschen unter einen Hut zu bringen. Alle Bedürfnisse konnte man allein stillen: Man konnte allein essen, trinken, schlafen, ins Theater gehen, Sex haben. Für den Sex gab es schon lange sehr gute Roboter, die einen besser befriedigen konnten als jeder Mensch. Informationen aller Art, gleich, ob sie allein oder zu zweit aufgenommen wurden, musste man letzten Endes doch allein verarbeiten. In den Kopf, der ja anerkanntermaßen den Menschen ausmachte, konnte niemand, auch kein Lebenspartner, hineinschauen. Und die Erhaltung der Stadtbevölkerung, vielleicht die von der Natur in Vorzeiten gewollte, eigentliche Ursache für das Entstehen von Zweierbeziehungen überhaupt, wurde schließlich schon seit langem zentral gesteuert. Befruchtungen erfolgten nicht bei körperlichem Kontakt, sondern unter medizinischer Aufsicht, gefahrlos für die Mutter, die eigentlich nur noch Eispenderin war, und das werdende Leben außerhalb der der menschlichen Körperhülle.

Kinder traten in der Stadt nicht auf. Sie wurden in speziellen Kinderentwicklungsräumen aufgezogen, mit der Sprache und den Notwendigkeiten für ein späteres Leben in der Stadt vertraut gemacht. Schon frühzeitig wurden sie genetisch untersucht und in verschiedene Klassen eingeteilt. Administratoren, Krieger, Lehrer, Weiterentwickler, Techniker, und viele andere Kategorien wurden gezüchtet. Die Administration der Stadt hatte eine große Kinderbehörde eingerichtet, in der das alles geplant, weiterentwickelt und vervollkommnet wurde. Aber noch war man weit davon entfernt, die perfekten Menschen für die verschiedenen Aufgaben zur Verfügung zu haben. Immer wieder entwickelten sich Kinder anders als gewünscht und vorausgesehen. Ein Hauptproblem war, dass die Kinder Kommunikation verlangten, diese aber in der Stadt eigentlich nicht gewünscht war. Aber ohne Kommunikation wurden die Kinder dumm. Es war schwierig, den Kindern zu vermitteln, dass sie in ihrem späteren Erwachsenenleben weitgehend ohne die unerwünschte Kommunikation klarkommen sollten. Sie wollten immer wieder irgendwelche Gruppen, aber genau das sollten sie eigentlich nicht wollen. Es war schwierig mit den Kindern. Ihre Gene waren noch nicht so, wie die Stadt es benötigte.
Wahrscheinlich würde es noch Jahrzehnte dauern, um die perfekten Kinder zu schaffen.

Und das andere Problem waren die alten Menschen. Alte Leute waren in der Stadt nicht erwünscht. Sie waren uninteressant für die Theater und blockierten das Leben. Die Stadt musste sie rechtzeitig loswerden. Jedem Menschen war klar, dass jeder irgendwann sterben musste. Nur wann und wie, war nicht genau bekannt. Und das war auch gut so. Die Administration hatte Mittel und Wege gefunden, ältere Menschen zu entnehmen, wenn es Zeit für sie war. Anhaltspunkte lieferten Ärzte, Krankenkabinenbetreiber und Apotheken. Sie meldeten alle Daten an bestimmte Stellen. Wenn die Auswertung ergab, dass die betroffenen Menschen nur noch eine Last für die Stadt sein würden, wurden sie entnommen. Auch die Beobachtungsstellen lieferten Daten, ob Menschen sich noch gerade hielten und schnell gingen oder immer langsamer wurden und sich ständig setzen wollten. Ob sie anfingen, Dinge zu vergessen und sich nicht mehr zurechtzufinden, begannen, die Restaurants und die Theater zu vermeiden. Wenn das zu sehr zunahm, folgte die Entnahme nach dem Motto: lieber etwas früher als zu spät. Auch wenn Stadtbewohner nicht mehr arbeiten konnten oder wollten, sich nicht mehr selbst versorgten, bedeutete das schnell das Ende. Ein festes Lebensalter war nicht vorgesehen; es konnten 60, 70 oder 80 Jahre sein, aber mehr eigentlich nicht. Irgendwann waren die Leute verschwunden, und keiner vermisste sie. Hatten sie in Zweierbeziehungen gelebt oder waren sie zu sehr an Gruppen gebunden, dann wurden die Beziehungspersonen notfalls mit entfernt. Trauer war auf keinen Fall erwünscht und wurde unterbunden, so gut es ging. Aber auch in dieser Hinsicht war die Stadtadministration noch nicht perfekt.

Wohin die überflüssigen Menschen verschwanden, war niemandem offiziell bekannt. Die Entnahmeprozesse verliefen weitestgehend automatisiert. Und die auserwählten Mitarbeiter der Stadt, die damit irgendetwas zu tun hatten, waren zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Hin und wieder wurde etwas von der „Wiederverwertung der Biomasse“ zum Wohle der Stadt gemunkelt.

In solcherlei Gedanken versunken, fühlte Klaus Berger, wie Groll in ihm aufkam. Er ärgerte sich über seine Frau, aber mehr noch über sich selbst. Es war doch klar, dass sie nicht mehr da war; sie war ein selbständiger Mensch, wusste sehr wohl, was sie zu tun und zu lassen hatte, und sicherlich war das lange nutzlose Warten auf ihren Mann kein Vergnügen für sie gewesen. Also war sie höchstwahrscheinlich hochgefahren, hatte sich selbst eine Berechtigungsmarke für die Reservierungszentrale beschafft, irgendwo hier die entsprechende Zulassungsmarke geholt, das alles dauerte ja normalerweise nur wenige Minuten, und saß nun irgendwo im Theater. Vielleicht konnte sie ihn gerade sehen und machte sich ein Vergnügen daraus. Vielleicht hatte sie ihn die ganze Zeit beobachten können, während er sich verzweifelt bemüht und beeilt hatte, um den Weg zurück zu finden. Wie lächerlich war er ihr wohl in seiner Hilflosigkeit vorgekommen. Was war er doch für ein Narr! Seit langem schon hatte er bemerkt, wie bei manchen seiner Worte oder Handlungen ihre Mundwinkel spöttisch zuckten. Bei dem Wenigen, das sie sprachen, war es ihm immer öfter erschienen, als hörte er Ironie in ihrer Stimme, ein Überlegenheitsgefühl, das zu verbergen ihr entweder sehr schwer fiel oder sie sich gar nicht die Mühe machte.

Jetzt galt es, Haltung zu bewahren. Er hatte noch eine Möglichkeit, die er nicht verspielen durfte. Falls sie ihm wirklich zusah – und das war immerhin möglich – eigentlich rechnete er nun fest damit, so musste er glaubwürdig darstellen, dass er über der Situation stand. Hilflosigkeit war das Allerletzte, was er sich leisten konnte, es würde ihre Zweierbeziehung unmöglich machen. Eigentlich war dieses Verhältnis ja sowieso schon unmöglich geworden, aber wenn es beendet würde, was ihm jetzt immer unausweichlicher erschien, dann wollte er dies aus einer Position der Stärke und nicht der Schwäche tun. Alles wollte und würde er aufgeben, wenn es sein musste. Und es schien so, als müsste es sein. Um jeden Preis aber musste er seine Lebenskraft behalten. Alles andere käme der eigenen Vernichtung gleich.

Klaus Berger warf einen betont kurzen Blick in die offene Wartekabine, in der sich seine Frau befunden hatte, obwohl er doch schon wusste, dass sie leer war. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er bemerkte, dass der kleine bequeme Stuhl in der Kabine umgeworfen und die Schnur des Kopfhörers, den man sich zur akustischen Unterhaltung in der Kabine aufsetzen konnte, aus der Wand gerissen war. Anscheinend war seiner Frau das Warten zumindest nicht gleichgültig gewesen. Wie es aussah, war er sogar noch in der Lage, Gefühle in ihr wachzurufen und wären es auch nur Gefühle des Ärgers, wenn er sie warten ließ. Plötzlich fühlte er sich erheblich besser, in seiner Person bestätigt und zuversichtlich. Mochte sie ihm doch zusehen! Er lachte und schüttelte den Kopf, während er sich umwandte und eine Transportkabine betrat. Das kleine Vehikel setzte sich rasch und lautlos in Bewegung. Es ging zur nächsten Senkrechtschachtanlage.

*

Horst Jansen und seine Freundin hatten inzwischen verschiedene Situationen in die Theaterkabine projiziert bekommen. Unter anderem hatte es irgendeinen Unfall im Transportmittelsystem gegeben. Zwei Kabinen waren ineinander gefahren. Bei den hohen Geschwindigkeiten, die sie erreichten, führte dies zu ähnlichen Effekten, wie wenn man zwei stehende, rohe Eier seitlich aneinanderschlug. (Ähnlich wie Eier sahen auch die kleinen Transportkabinen aus, nur dass sie oben und unten etwas stärker abgeflacht waren). Von dem Zusammenprall selbst war natürlich leider nichts zu sehen gewesen. Die zentrale Projektionssteuerung schaffte es offenbar immer noch nicht, zu erwartende Unfälle rechtzeitig zu orten und in die Projektion zu bringen. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, Unfälle gezielt und gesteuert zu verursachen, so dass man sich frühzeitig darauf einstellen konnte. Man hörte zwar, dass solche Verbesserungen in der Entwicklung sein sollten, aber Genaueres dazu war nicht bekannt. Die längst überfällige Theaterreform ging überhaupt sehr langsam vor sich. Manchmal hatte man den Eindruck, sie hätte noch gar nicht begonnen. Und die vielversprochenen „Sensationen“, die immer neue Theater angeblich zu bieten hatten, entpuppten sich bei näherem Hinsehen nur allzu oft als Altbekanntes von früher, neu zurechtgemacht. Wenn in dieser Richtung nicht bald etwas geschah, waren ernste Gefahren abzusehen. Ein so hochentwickeltes, kompliziertes und wohldurchdachtes Gemeinwesen wie die Stadt konnte einfach nur bestehen, wenn alle Teile das verrichteten, was ihre Bestimmung war. Und die Bestimmung der Menschen war es, das Räderwerk der Stadt am Laufen zu halten, zu arbeiten, zu wohnen und die Freizeit zu verbringen. Die häufigste Art der Freizeitgestaltung war das Theater, wohl auch die beliebteste. Es bestimmte den Lebensrhythmus und die Lebensgewohnheiten der Menschen dermaßen, dass ein Nachlassen des Interesses daran schlimme Folgen gehabt hätte.

Alle vorhandenen Einrichtungen der Stadt mussten ihrer Bestimmung nach genutzt werden, alles musste abschließbar, dicht, nach außen isoliert sein. Ohne die Transportschächte und -tunnel waren die Ebenen nicht denkbar. Ohne die Ebenen konnte die Stadt nicht existieren, es hätte keine Arbeit, nichts zu essen und nichts zu trinken gegeben. Ohne die verschließbaren Restaurants, ohne hermetisch abgedichtete Wohnungen, Büros und andere Räumlichkeiten hätten die Tarner ihren Sinn verloren und die Enttarner gar nicht erst mit ihrer Arbeit beginnen können. Aber alles dies hatte seinen Ursprung im Theater; die Möglichkeit, alles jederzeit beobachten zu können, rechtfertigte, ja verlangte den Aufbau der Stadt so, wie sie war. Die Tatsache, dass man jederzeit von jedem gesehen werden konnte, macht die Menschen erst zu dem, was sie waren, sie bestimmte ihr Verhalten, ihre Einstellung zu sich selbst und anderen gegenüber. Schauspieler und Betrachter zugleich, so lebten die Menschen ständig im Theater. Und das Theater war die Stadt.

Horst Jansen und seine Freundin sahen also die Folgen des Kabinenzusammenstoßes. Aber die Projektion war undeutlich. Es konnte nicht einmal genau erkannt werden, was aus den zerborstenen Hüllen der Transportbehälter herausquoll. Waren es Überreste von menschlichen Körpern? Die konnte man allenfalls vermuten.

Außer der Situation nach dem Kabinenzusammenstoß sahen die beiden jungen Zuschauer noch die Projektion eines Vulkanausbruches. Dieser musste außerhalb der Stadt stattfinden, war aber dennoch recht interessant. Der graue Vulkankegel erinnerte fast an eines der mir Schutzmasse überzogenen, alten, oberirdischen Hochhäuser, nur mit dem Unterschied, dass diese etwas grünlicher und mehr kuppelförmig waren. Außerdem hatten sie oben kein Loch. Aus dem Vulkanloch aber brodelte und spie es, eine gelblich glühende, dünnflüssige Masse quoll hervor und lief an dem Kegel herunter. Der Ausbruch musste recht unverhofft und plötzlich gekommen sein; denn man sah in Großprojektion Dörfer am Fuße des Vulkans, aus denen Menschen und Tiere liefen, die teilweise von der schnellfließenden, feurigen Flüssigkeit eingeholt und begraben wurden. Dies ging so schnell, dass sie nicht einmal vorher verbrennen konnten. Die Flammen wurden mit Glut erstickt. Die Häuser, in denen die Menschen gelebt hatten, versanken in der gelbroten Flut.

Es war eine anerkennenswerte Leistung, dass die zentrale Projektionssteuerung den Vulkanausbruch gleichzeitig und direkt in die Theaterkabinen bringen konnte. Anscheinend war man auf das zu erwartende Ereignis schon lange vorbereitet gewesen und hatte rechtzeitig die verdeckten Beobachtungsstationen installieren können. Die Menschen in den betroffenen Gebieten waren natürlich nicht informiert worden; denn das erhoffte Naturschauspiel hätte dadurch viel von seinem Reiz verloren. Die Gewalt der Natur, verbunden mit den unmittelbaren Auswirkungen auf Menschen, mit denen man sich bis zu einem gewissen Grade identifizieren konnte, das machte ja gerade das erregende Erlebnis aus, das nur im Theater geboten wurde.

Szenen wie die genannte vermittelten den Stadtbewohnern immer wieder ein eigenartig prickelndes Gefühl, gemischt aus Lust, Angst und Stolz. Sie fühlten sich wohl im Inneren der Erde, sie lebten im Einklang mit der Tiefe. Die Gluten, die außerhalb der Stadt Leben vernichteten, hatten sie sich längst untertan gemacht. Sie bezogen ihre Energie aus den ungeheuren Hitzereserven des Erdinneren. Und doch war es beeindruckend, wenn man sah, wie die Kräfte, die man selbst gebändigt zu haben glaubte, sich selbstständig machten und, alles verzehrend, eine breite Spur der totalen Vernichtung hinter sich ließen.

Das Beobachten der Geschehnisse aus sicherer Entfernung verringerte die Angst, gewiss auch ein wenig den Reiz. Jeder wusste, dass Vulkanausbrüche oder Erdbeben in der Stadt, ihrer geografischen Lage wegen, so gut wie ausgeschlossen waren. Und alles, was nur die Außenwelt, die Oberwelt betraf, war nicht im eigentlichen Sinne „wirklich“. Aber es war doch eine fesselnde Darstellung, wie die Vulkanszene so deutlich projiziert wurde. Darin stimmten auch Horst Jansen und seine Freundin überein, obwohl sie nicht darüber sprachen.

Die wohl spannendste, aber auch rätselhafteste Projektion sahen die beiden Zuschauer in ihrer teuren Theaterkabine, nachdem der so hilflos umherirrende Mann mit der Theater-Zulassungsmarke in der Hand offenbar seinen richtigen Weg gefunden hatte und aus dem Bild ausgeblendet worden war. Es war ein Geschehnis aus der Stadt. Wo die Sache spielte, konnte man nicht genau feststellen, nur eines war gewiss: Bei der „Hauptdarstellerin“ handelte es sich um eine Frau.

Sie saß in einer Kabine am Eingang einer großen Halle, in der sich eine Reihe etwa mannshoher Kästen befand, offenbar irgendwelche Automaten. Man konnte das Innere der verschlossenen Kabine sehen, aber gleichzeitig auch die Halle, in der sie stand. Die Projektion war ohne Ton. Die Frau hatte einen Unterhaltungskopfhörer aufgesetzt. Plötzlich betraten vier Männer die Halle. Dies war sehr ungewöhnlich. Wenn eine solche riesige Anzahl von Menschen, ohne dass der Zweck klar gekennzeichnet war, gemeinsam auftrat, dann konnte es sich hierbei eigentlich nur um Antis oder Angehörige der städtischen Kontrollorgane handeln. Letzteres war im vorliegenden Falle eher anzunehmen, besonders aufgrund der gleichartigen Anzüge, welche die Männer trugen.

Gleichwohl war es ungewöhnlich; denn wenn man auch wusste, dass die Angehörigen der städtischen Kontrollorgane praktisch die Einzigen waren, die offiziell und grundsätzlich in größeren Gruppen arbeiteten, so taten sie dies doch meist unter Vermeidung jedes Aufsehens, abseits von der Öffentlichkeit. Im Theaterprogramm aber waren sie nie zu sehen! Falls es sich hier also um Beauftragte der Stadt handelte, so musste ihre Aufgabe eine ganz besondere sein. Dies zeigte auch ihr weiteres Verhalten. Sie gingen auf die kleine Kabine zu, in der sich die Frau befand. Jetzt sah man die Frau nicht mehr in der Projektion, sondern nur noch die Halle, die Kabine, von der man wusste, dass die Frau darin war und die Männer. Schon waren die Männer an der Kabinentür. Sie machten sich an der Tür zu schaffen.

Horst Jansen und seine Freundin konnten nun sehen, wie die Männer anscheinend versuchten, die Kabine von außen zu öffnen. Die Rufanlage hatten sie nicht betätigt, so dass die in der Kabine befindliche Frau von innen nicht öffnete. Jetzt erschien in der einen Hälfte der Bildprojektion auch wieder die Frau. Man konnte sehen, wie sie mit geschlossenen Augen und angezogenen Beinen dasaß, wobei sie die Knie mit beiden Händen umfasst hielt. Den Unterhaltungskopfhörer hatte sie immer noch aufgesetzt. Von dem, was außerhalb der Kabine geschah, schien sie nichts zu bemerken.

Horst Jansen hatte zunächst keine Erklärung dafür, was die ganze Szene überhaupt darstellen sollte. Es musste aber etwas Interessantes sein, wenn es in die Theaterprojektion gesteuert wurde. Außerdem war anzunehmen, dass die Sache von äußerster Wichtigkeit war. Die Abgeschlossenheit eines Einzelraumes war das höchstgeschützte Gut in der Stadt, die Lebenssubstanz der Menschen. Diese Abgeschlossenheit durfte nur zum Zwecke des Beobachtens durchbrochen werden und dies auch nur von Enttarnern, aber eine gewaltsame, physische Öffnung erfolgte nie. Außerdem durfte der Mensch, der sich abgeschlossen hatte und neue Lebenskraft aufnahm, niemals bemerken, wenn er beobachtet wurde.

Was hier jedoch geschah, war strengstens untersagt. Es konnte sich daher nur um Verbrecher aus den Reihen der Antis oder um offizielles Einschreiten der städtischen Gewalt handeln. Verbrecher aber konnten es nicht sein; denn da es in die Theaterprojektion gesteuert wurde, hatten die offiziellen Stellen ja Kenntnis davon, und diese wären gegen das Verbrechen eingeschritten. Außerdem sahen die Männer irgendwie zu „amtlich“ aus, als dass sie den Antis zugerechnet werden konnten. Wenn man also davon ausging, dass es sich um städtische Bedienstete handelte, dann lag sicherlich höchste Not vor, die sie zwang, in diesem besonderen Falle den Frieden der menschlichen Abgeschlossenheit zu brechen. Dies wäre auch eine Erklärung für die Steuerung in die Theaterprojektion gewesen. Vielleicht war die Luftzufuhr in die Kabine gestört, das alte Problem im unterirdischen Stadtleben, dessen man noch nie ganz Herr geworden war. Vielleicht traten auch giftige Gase aus, die die Frau gefährdeten. Hiergegen sprach aber das Bild der Frau, die man ja gleichzeitig sah. Sie machte einen sehr gesunden und frischen Eindruck und atmete regelmäßig. Möglicherweise konnte die Kabine aus irgendeinem Grunde im nächsten Moment explodieren. Unwahrscheinlich erschien diese Annahme aber angesichts der offenkundigen Sorglosigkeit, mit der sich die Männer an der Kabinentür zu schaffen machten. Ja, sie schienen vergnügt dabei zu sein.

Immer rätselhafter wurde die Angelegenheit für Horst Jansen und seine Freundin. Mit einem Ruck rissen die vier Männer die Tür der Kabine auf. Das ganze Geschehen war jetzt in einem großen Bild vereint. Die Augen der Frau weiteten sich vor Erschrecken. Zwei Männer standen links und zwei rechts von der Tür. Sie steckten nur die Köpfe in die Türöffnung, wobei der jeweils nächst zur Tür stehende Mann etwas in die Knie ging und der Entferntere sich halb vor und halb zur Seite beugte. Für die Frau in der Kabine musste es so aussehen, als hingen nur vier Köpfe dort, wo die Tür gewesen war. Von den übrigen Körpern sah sie nichts. Die Männer sprachen kein Wort. Bei der Projektion ohne Ton wäre das sowieso nicht zu hören gewesen; aber man sah, dass die Männer den Mund nicht bewegten. Die Frau in der Kabine streckte, wie abwehrend, die Hände mit nach vorn geöffneten Handflächen und gespreizten Fingern in Richtung der Tür, dann zog sie die rechte Hand zurück und entfernte damit den Unterhaltungskopfhörer.

Immer noch sprachen die Männer kein Wort, griffen jetzt aber langsam mit den Händen um die Kante der Türöffnung. Erst starrte die Frau wie gelähmt in Richtung Tür, ihr Mund öffnete sich wie zu einem Schrei, den man nicht hören konnte. Dann wich sie, wieder beide Arme ausgestreckt, zurück, bis zur Wand, hatte hierfür in der winzigen Kabine aber kaum 1,5 Meter Raum. Der kleine Stuhl, auf dem sie geruht hatte, fiel um.

Langsam streckten die Männer die Hände und die Arme in die Kabine hinein. Auf ihren Gesichtern war ein fratzenhaftes, aber doch eigentümlich ausdrucksloses Lächeln zu sehen. Immer noch sprachen sie kein Wort. Die Frau schien nun aber etwas zu sagen, schnell bewegte sich ihr Mund, ging auf und zu, formte Laute, ihr Hals war lang gestreckt, man sah, wie sie schluckte, ihre Augen rollten hin und her., ihre Hände bewegten sich, wie fragend, dann wie in Abwehr, nach vorn. Doch zu hören war nichts. Und wie man sah, kam auch kein Laut über die Lippen der Männer. Sie hatten nun die Arme ganz in die Kabine gestreckt, die Oberkörper folgten.

Die Männer, die nächst zur Tür gestanden hatten und schon etwas in die Knie gegangen waren, knieten nun vollends und streckten die Hände in Richtung der Frau aus, an dem kleinen, umgefallenen Stuhl vorbei. Die beiden anderen Männer schoben sich weiter in die Kabine und griffen bedächtig nach den Oberarmen der Frau. Diese hatte ihre Arme zurückgezogen, flach drückte sie sich an die Kabinenwand, die ihr kein Entkommen ermöglichte. Die Arme hielt sie seitlich ihres Körpers an die Wand gepresst. Ihr Mund formte keine Laute mehr. Er war nur weit geöffnet. Ihr Kinn und die Lippen zitterten. Ab und zu sah man die Zungenspitze. Etwas Speichel floss aus ihrem linken Mundwinkel.

Die Hände der Männer griffen zu. Jeweils eine Hand der knienden Männer griff an die Waden, die andere an die Oberschenkel, fast in Höhe des Gesäßes, die Hände an den Waden zogen die Beine nach vorn und nahmen der Frau den Halt. Sie fiel jedoch nicht; denn jeweils eine Hand der stehenden Männer hielt ihre Oberarme gepackt, während die beiden anderen Hände sich unter ihren Rücken legten. Die knienden Männer zogen ihre Beine nun langsam aus der Kabine heraus, der Unterkörper der Frau folgte. Ihr Oberkörper schwebte jetzt in der Luft, von den beiden stehenden Männern getragen. Die knienden Männer erhoben sich und hoben Beine und Unterkörper der Frau mit hoch. Ihre Gesichter waren nach vorn, den Füßen der Frau zugewandt. Die stehenden Männer, die inzwischen ganz in die Kabine hineingeglitten waren, hoben die Frau nun in Schulterhöhe, wie auch die Männer vorn. Jetzt befand sich die Frau zur Hälfte inner- und zur Hälfte außerhalb der Kabine.

Während sie bisher wie gelähmt, gewissermaßen als Zuschauer miterlebt hatte, was mit ihrem Körper geschah, ging nun ein Ruck durch diesen, und er straffte sich. Arme und Beine zuckten, sie warf den Kopf hin und her, aber die harten Griffe der vier Männer lockerten sich nicht. Sie schickten sich vielmehr an, die Frau vollends wegzutragen. Während sie aus der Kabine herauskam, spreizte sie noch einmal ihre Finger, die rechte Hand griff im Vorbeistreifen die herunterhängende Schnur des Unterhaltungskopfhörers, krampfte sich daran fest und riss sie aus der Wand. Dann öffnete sich die Hand, die herausgerissene Schnur fiel zu Boden, und schlaff hing der Körper der Frau in den Armen der sie wegtransportierenden Männer.

Eine Vermutung stieg in Horst Jansen auf: War die ganze Sache etwa beabsichtigt? Geschah dies alle nur deshalb, um in das Theater projiziert werden zu können? Möglich war es. Dann wäre die Theaterreform aber schon weiter vorangekommen, als man es allenthalben vermutete. Dann mussten die vier Männer Theaterschöpfer sein, von denen man als geplante Berufsgruppe zwar schon gehört hatte, aber überall der Meinung war, dass man auf sie noch lange würde warten müssen. Es kam wieder Leben ins Theater; die Administration schlief nicht.

Wenn die gezeigten Männer Theaterschöpfer waren, und je mehr Horst Jansen darüber nachdachte, desto weniger zweifelte er daran; dann versprach das Schauspiel interessant zu werden. Aber da blendete das Bild vorerst aus, und andere Geschehnisse wurden gezeigt, die Situation nach dem Kabinenzusammenstoß und der Vulkanausbruch.

*

Klaus Berger verließ die fünfte Tiefebene. Der Senkrechtschacht, in dem es in rasender Fahrt nach unten ging, führte bis zur neunten Ebene. Diese hatte er auch als vorläufiges Ziel eingegeben, da er offenbar nicht auf direktem Wege in die elfte Tiefebene gelangen konnte. Sicherlich würde er umsteigen müssen.

Die Türen der Transportkabine öffneten sich. Klaus Berger befand sich in der neunten Ebene. Er las die angebrachten Hinweisschilder. Einige zeigten nach links, den Gang entlang und bezogen sich anscheinend auf Orte innerhalb der neunten Tiefebene. Die Transportanlagen zu tieferen Ebenen befanden sich rechts. Nach wenigen Schritten stand er vor zwei Schachttüren, eine mit „10“ und eine mit „11 – 17“ gekennzeichnet.

„17 Tiefebenen?“ dachte er. Noch nie hatte er davon gehört, dass sich die Stadt so weit in die Tiefe ausdehnte. In den ersten vier Tiefebenen spielte sich das Leben normalerweise ab; einige Einrichtungen befanden sich in der fünften. Jenseits davon gab es Wohnungen für die Reichen, verschiedene teure Restaurants und Theater, städtische Versorgungseinrichtungen. Es war bekannt, dass es ungefähr 10 Tiefebenen sein mussten, aus denen die Stadt bestand. Natürlich gab es noch die Energiegewinnungsanlagen, die in die Tiefe der Erde hineinreichten, aber hier stand Klaus Berger vor einem Transportschacht, der auf mindestens 17 Ebenen hinwies. Dabei war er schon erstaunt gewesen, als er von dem „neuen Theater“ in der elften Tiefebene gehört hatte.

Er drückte auf einen Knopf an der Schachtanlage –nichts geschah. Dann sah er eine Schrift unterhalb des Knopfes aufleuchten und einen Pfeil. „Zutrittsmarke einführen“ war zu lesen. Wieder wunderte sich Klaus Berger. Dies war äußerst ungewöhnlich. Normalerweise konnte man alle Transportmittel in der Stadt ohne besondere Zutrittsberechtigungen benutzen, natürlich auch kostenfrei. Gewiss gab es einige, nicht jedermann zugängliche Verbotszonen, die den städtischen Aufsichtsbehörden vorbehalten waren, aber von Ebene zu Ebene konnte man überall ungehindert gelangen. Zutrittsmarken für bestimmte Einrichtungen wurden immer erst am entsprechenden Ort benötigt. Aber schon hier? Dies musste doch aber auch bedeuten, dass alle Ebenen unter der elften Tiefebene, also, wie hier angegeben, bis zur 17., nicht mehr ohne weiteres erreicht werden konnten. Demnach war ja fast der größte Teil der – bekannten – Stadt nicht frei zugänglich!

Grübelnd in derlei Gedanken vertieft, hatte Klaus Berger die Zutrittsmarke inzwischen in den dafür vorgesehenen Schlitz eingeführt, die Marke, die eigentlich ihm und seiner Frau einen angenehmen Theaterabend hatte bescheren sollen. Nun war er alleine gekommen.

Eine Kabinentür öffnete sich. Klaus Berger trat hinein. Er wollte in gewohnter Weise die Steuerungstastatur betätigen, aber es gab keine. Lautlos schloss sich die Tür, und ohne sein Zutun glitt die Kabine in abwärtiger Richtung. Die Kontrollanzeige allerdings war vorhanden. Nach wenigen Augenblicken war die Zahl „11“ zu erkennen.

Die Kabinentür öffnete sich. Klaus Berger trat heraus, um sich nach dem rechten Weg umzusehen. Es gab aber nur einen. Ein röhrenförmiger Gang mit glatten Stahlwänden, matt erleuchtet, führte nur in die linke Richtung. Rechts befand sich lediglich eine glatte Wand. Klaus Berger lief den Gang entlang. Verwundert war er darüber, dass die Stadt hier unten sauber zu sein schien. Vom üblichen Schmutz und Unrat, der sonst überall vorhanden war und viel zu selten beseitigt wurde, war hier nichts zu sehen. Nicht einmal die Spinnen und Insekten, die den Menschen in den oberen Ebenen manchmal arg zu schaffen machten und die trotz aller technischen Fortschritte nicht ausrottbar zu sein schienen, gab es hier.

Er kam auf seinem Weg an Türen vorbei, augenscheinlich gehörten sie zu Transportkabinen, aber irgendetwas erschien anders als in den gewohnten Ebenen der Stadt. Klaus Berger überlegte, und dann fiel es ihm ein: keinerlei Steuerungseinrichtungen waren an den Türen hier zu sehen, keine Knöpfe oder Tastaturen, keine kleinen Schlitze, die zu Mikrofonen gehörten. Nicht einmal die üblichen Lämpchen, in verschiedenen Farben unterschiedlicher Bedeutung leuchtend, waren vorhanden. Die Türen waren kahl und glatt und nicht zu bedienen. Eigentlich waren sie nur dadurch als Türen zu erkennen, dass man sie etwas in die Röhrenwand eingelassen hatte und feine Spalten ringsherum auf ihre Beweglichkeit hindeuteten. Wenn aber die Türen hier unten nicht zu bedienen waren, dann mussten sie überwacht und zentral gesteuert werden, so dachte Klaus Berger. Dann konnte ihn seine bereits vor dem letzten Senkrechtschacht eingegebene Zutrittsmarke also auch nur zu dem von ihm gewünschten – oder für ihn bestimmten – Theater führen.

Dies alles versetzte ihn mehr und mehr in Erstaunen. Hatte er wirklich so wenig von der Stadt und ihren Einrichtungen gewusst? Wussten andere davon? Oder wurde das Wissen darum den Menschen vorenthalten? Aber warum und wozu? Waren sie nicht alle Teile der Stadt?

Klaus Berger lief weiter. Der Gang gabelte sich. Aber auch an dieser Stelle gab es kaum eine Entscheidungsmöglichkeit: Links führte der Gang ins Dunkel. Schon nach wenigen Metern war nichts mehr zu sehen. Irgendeinem plötzlichen Impuls folgend, war Klaus Berger dennoch versucht, in diesen Gang zu treten, aber dann wandte er sich nach rechts. Dort war es erleuchtet, und an einer der Türen brannte ein kleines Licht. Diese Tür war für ihn bestimmt. Er trat davor; ohne, dass es eines weiteren Zutuns von ihm bedurft hätte, öffnete sie sich. Er trat ein und befand sich wieder in einer kleinen Transportkabine, auch diese ohne Steuerungseinrichtungen. Nach einer kurzen, lautlosen Fahrt und vielleicht zwei Minuten anschließenden Wartens, das ihm aber fast endlos erschien, öffnete sich die Tür, und Klaus Berger stand vor dem Theater.

Eine riesige Halle sah er vor sich mit einem grünlich schimmernden, glatten Kuppelbau in der Mitte. Völlige Stille herrschte. Er hörte seine eigenen Atemzüge. Langsam lief er um die Kuppel herum. Selbst sein Laufen verursachte keinerlei Geräusch, auch nicht, als er absichtlich etwas fester auftrat Das ebenfalls, wie die Kuppel, nur etwas dunkler als diese, grünlich schimmernde Material des Fußbodens, fest und nachgiebig zugleich, schien jedes Geräusch zu ersticken.

Viele kleine Türen, hinter denen sich offenbar die Theaterkabinen befanden, waren am Boden der Kuppel ringsherum angebracht, alle verschlossen. Auch hier gab es keine Einrichtungen zum Öffnen. Nicht einmal die Kontrolllämpchen deuteten, wie ansonsten in Restaurants oder Theatern üblich, darauf hin, ob die Kabinen besetzt oder frei waren. Klaus Berger ging weiter um die Kuppel herum. Da sah er eine Tür, die weit offenstand. Warmes, einladendes, gelbliches Licht drang heraus. Er wusste, es war seine Theaterkabine.

*

Klaus Berger trat in sein Theater. Geräuschlos schloss sich hinter ihm die Tür. Ganz still war es. Er war allein und fühlte sich geschützt und geborgen. Das warme, gelbliche Licht umflutete ihn. Es war nicht grell, sondern angenehm, aber gleichzeitig allgegenwärtig. Er hatte den Eindruck, dass er in diesem Licht gebadet würde. Klaus Berger beschaute die Kabine. Ein Ruhesessel war zu sehen, sonst nichts. Wieso war da nur ein Sessel? Dies erschien ihm merkwürdig. Er hatte doch ursprünglich das Theater mit seiner Frau zusammen besuchen wollen und eine Doppelkabine ausgesucht. Auch hatte er an der letzten Senkrechtschachtanlage die Zutrittsmarke für die Zwei-Personen-Kabine eingeführt. Daraufhin war er zielgerichtet, so hatte er jedenfalls den Eindruck gehabt, in diese Kabine geleitet worden. War dies vielleicht gar nicht seine Kabine? War sie einem anderen Menschen zugedacht, dessen Platz er hier einnahm? Hätte er, als der Gang sich vorhin gabelte, den dunklen Weg betreten und nicht dem Licht nachgehen sollen?

Wenn dies aber die für ihn vorgesehene Kabine war, so hatte doch niemand wissen können, dass er seine Frau unterwegs sozusagen „verloren“ hatte. Oder doch? Was war überhaupt noch sicher? Ein Gefühl des Schauderns stieg an seinem Rücken auf. Sein Gehirn arbeitete. Er fügte Fakten zusammen, zog Schlüsse, und sein Gefühl der Unsicherheit verstärkte sich. Er rekapitulierte den Ablauf des Tages: Nachdem er und seine Frau gegen Mittag im abgeschlossenen, sicheren Restaurant davon gesprochen hatten, dass sie eines der neuen Theater besuchen wollten, war er zur Theaterinformation gegangen. Dann hatte er zwei Berechtigungsmarken für die Reservierungszentrale gelöst, mit den eingegebenen Codes von sich selbst und seiner Frau. Und dann? Dann hatten schon seine „Irrwege“ begonnen, angefangen von den unerklärlichen Schwierigkeiten beim Wiederfinden der Reservierungszentrale und dem Verschwinden seiner Frau. Aber irgendwie, so schien es ihm, war seit dieser Zeit alles zielgerichtet abgelaufen.

Klaus Berger wurde es immer unheimlicher zumute. Er zwang sich jedoch zur Ruhe und setzte sich in den Sessel. Plötzlich leuchtete ein bläuliches Licht in der Mitte seiner Kabine auf. Die Theaterprojektion begann. Erst war alles verschwommen, dann formten sich Umrisse und eine Gestalt wurde sichtbar. Es war seine Frau. Sie stand in einer Kabine, die offenbar auch eine Theaterkabine war. Regungslos starrte sie in die Mitte ihres Raumes. Sie war noch so gekleidet, wie Klaus Berger sie verlassen hatte, lediglich ein Träger ihres Kleides war abgerissen, und ihre Frisur erschien etwas aufgelöst. Frau Berger sah vor sich eine Projektion. Sie sah ihn. Und Klaus Berger sah, dass sie ihn sah. Er blickte an sich herunter und stand aus seinem Sessel auf. Und er sah, wie seine Frau sah, dass er aufstand. Und er sah sich, inmitten seiner Kabine, in verkleinerter Form, selbst aufstehen.

Auch die Projektion seiner Frau war etwas kleiner als ihre natürliche Größe, ebenso, wie seine Frau ihn nur verkleinert sehen konnte. So erblickte er sich in seiner eigenen Kabine als Zwerg, der ihm kaum bis an die Schultern reichte und all seine Bewegungen gleichzeitig nachvollzog. Dieser Zwerg wiederum sah seine Frau, in noch verkleinerter Form, die ihn betrachtete, als wieder kleineren Zwerg, und so fort. Das ganze Bild verlor sich in der Winzigkeit in einem schimmernden bläulichen Licht, in dem alle Umrisse nach und nach verschwammen. Die ersten, größeren Exemplare des Ehepaars Berger waren aber klar und deutlich zu erkennen.

Alles war vollkommen lautlos. Klaus Berger ging um die Projektion, um das dreidimensionale Bild in der Mitte seiner Kabine, herum, und alle Zwerge gingen mit. Er sah seine Frau von allen Seiten. Jetzt schaute er ihr in das Gesicht, wobei er gleichzeitig auf die Rücken aller seiner verkleinerten Ausführungen blickte. Und seine Frau, in vielfacher Version, eine kleiner als die andere, betrachtete die Zwerge. Klaus Berger hörte nur seinen eigenen Atem. Den seiner Frau hörte er nicht. Immer noch blickte er sie an. Er wollte etwas zu ihr sagen, sein Mund öffnete sich, aber er fand kein Wort.

*

Host Jansen und seine Freundin sahen in der Mitte ihrer teuren Theaterkabine den Mann wieder, der sich vor einiger Zeit in den Transportanlagen verirrt hatte. Nicht ganz klar, aber dennoch gut erkennbar, sahen sie ihn in vielfacher Ausfertigung, eine kleiner als die andere.

Sie sahen auch die Frau, die von den vier Männern aus der kleinen Kabine geschleppt worden war, in vielfacher Ausfertigung, eine kleiner als die andere.

Und sie sahen, wie die beiden ihre gegenseitigen Bilder anblickten.

Leise nahm Horst Jansen die Hand seiner Freundin in die seine.

*

Klaus Berger sah, wie seine Frau die Hand nach ihm ausstreckte. Er wollte zu ihr hingehen, doch trat er nur in das Projektionsbild, wurde geblendet und musste die Augen schließen. Er lief zur Kabinenwand und suchte die Tür, aber er konnte sie nicht mehr finden. Alles außerhalb der Projektion war nur in das warme, gelbliche Licht getaucht, das ihn umflutete und jetzt etwas dunkler als vorher erschien. Kein noch so winziger Spalt in der Kabinenwand verriet die Stelle, an der er eingetreten war. Mit seinen Fäusten trommelte er gegen die Wand, aber sie schluckte jedes Geräusch und war von unerbittlicher und doch nachgiebiger Festigkeit. Sein Atem ging schneller. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Rote Ringe tanzten vor seinen Augen. Mit zitternden Händen nahm er sich eine Zigarette, nach Luft ringend, obwohl dies in den Theaterkabinen eigentlich verboten war. Er zündete sein Feuerzeug an, das nur ein winziges Flämmchen von sich gab. Das Flämmchen wurde immer kleiner und verlosch.

Klaus Berger sah in das Gesicht seiner Frau. Noch immer schaute sie ihn an, die Hand leicht ausgestreckt. Da erblickte er die Tränen, die ihre Wangen hinunterliefen. Er öffnete den Mund und rief nach ihr, er schrie ihren Namen. Aber er hörte nur ein grelles, irrsinniges Pfeifen.

Dann hörte er nichts mehr.