Der Vermummte fährt fort:
„Wenn ich mit Gott spreche, frage ich: ‚Wie können wir uns Dich vorstellen? Du schufst uns nach Deinem Bilde. Wir sind ein Teil von Dir und Du bist ein Teil von uns?‘
Ist das nicht frevelhaft und gotteslästerlich?
‚Nein, mitnichten.‘
Stellt Euch das so vor:
Du, lieber und großer und gütiger Gott erfüllst uns ganz, wenn wir die menschlichen, die körperlichen Eigenschaften weglassen, wenn wir ‚leer‘ sind. Dann füllst Du uns mit Deinem göttlichen Wesen. Denn vor Gott gibt es kein Vakuum. Wenn etwas leer ist, füllt er es aus.
Dann sind wir Gott. Dann SIND wir.
Das ist das SEIN. Es ist nicht abhängig von Raum oder Zeit. Es ist ewig.
Andererseits aber sind wir nur eine Zelle von Gott, ein winziges Segment von ihm; denn er ist unendlich groß. Er ist umfassend und für uns Menschen unergründlich.
So können wir das für uns Menschen plausibel machen: Eine von Gottes Zellen sein zu dürfen, ist eine große Gnade. Denn Gott kümmert sich um jede seiner Zellen, sie sind ja Teile von ihm.
Es ist wie in unserem Körper, den uns Gott für die Dauer unseres Erdenlebens zur Verfügung gestellt hat. Er besteht aus Billionen von Zellen. Einzelne davon sterben schnell ab, die äußeren Hautzellen zum Beispiel. Sie fallen ab, werden abgewaschen oder abgeschnitten. Und trotzdem sind sie nicht sinnlos. Sonst wären sie nicht da. Manche existieren nur sehr kurz. Die meisten geben nur in großen Mengen Sinn. Eine einzige Zelle hat kaum Bedeutung. Manche Zellen kommen aus früherer Zeit. Wie zum Beispiel die Haare: In großen Gruppen können sie uns Wärme und Schutz geben, wenigstens ein bisschen. Aber wir brauchen sie heute eigentlich nicht mehr. Jedenfalls nicht so, wie die Vögel die Federn brauchen oder die Bisamratten oder Biber das Fell.
Manchen der heute lebenden Menschen sind für Gott vielleicht so überflüssig wie die Haare es bei uns sind, geworden sind.
Aber die Haare verleihen uns auch Schönheit. Wie der Bart dem Manne oder die langen Haare manchen Frauen oder Männern oder auch die Nägel und Kopf- und Barthaare bei den Sikhs. Sie erkennen wohl die Göttlichkeit der Haare. Jetzt fange ich an zu verstehen, warum die Sikhs ihre Haare nicht schneiden dürfen. Das trifft dort wohl für Männer und Frauen zu.
Lieber Gott, selbst wenn wir nur Haare oder Nägel von Dir sein dürfen, müssen wir dankbar sein, denke ich.
Manche Zellen von Dir sind aber vielleicht auch Organzellen, manche gehören zum Sehen, manche lassen das Herz schlagen, manche gehören zum Rückenmark, manche zum Gehirn. Manche sind wichtig, manche essentiell, manche überflüssig. Aber wir vermögen das nicht zu beurteilen.
Aber immer können es nur mehrere, viele Zellen sein, die eine Funktion erfüllen.
Eine einzelne Zelle von Dir kann kaum etwas ausrichten. – Höchstens vielleicht schreiben, singen, Dich loben oder zu Dir beten.
Ich danke Dir, dass ich eine Deiner Zellen sein darf.
Manche Gruppen von Menschen haben vielleicht so einen göttlichen Sinn.
Aber sie haben wohl keinen Sinn, wenn sie sich gegenseitig bekämpfen oder ausrotten.
Deshalb vermeiden es vielleicht die gläubigen Sikhs, dass sie mit ihren Händen oder Werkzeugen ihre Nägel und Haare abschneiden. Es ist für uns ‚Westler‘ oder ‚Christen‘ nur schwer nachvollziehbar, aber es ist verständlich.
Wir müssen und sollen unsere Zellen pflegen. Denn alle sind ein Teil von Gott.
Wenn wir aber mit unseren Händen und Werkzeugen beginnen, andere Menschen – oder auch Tiere – zu töten und zu vernichten, dann ist das eine Rebellion gegen Gott. Ausgenommen das ‚Einverleiben‘, das wir während unserer Lebenszeit benötigen. Vegan oder vegetarisch oder was auch immer: Wir müssen uns andere Zellen ‚einverleiben‘, um überleben zu können.
Und wie ist es bei Dir, großer Gott? Verleibst Du Dir auch Zellen ein für Dein ewiges Überleben? Verleibst Du Dir Sterne und Galaxien ein?
Diese Gedanken übersteigen unseren menschlichen Rahmen. Wir haben allenfalls eine Ahnung davon, aber mehr auch nicht.
Ich fasse also noch einmal zusammen:
Wir alle sind Zellen von Dir, lieber Gott.
Und Du erfüllst uns ganz, wenn wir unsere menschlichen Eigenschaften verlieren. Vor und nach unserem irdischen Leben sind wir von Dir erfüllt. JE LEERER WIR SIND, UMSO VOLLER SIND WIR VOR GOTT.
Deswegen brauchen wir keine Angst zu haben.
Aber während unserer von Dir gegebenen Lebenszeit sollen wir Dich loben, preisen und auch die anderen Wesen, die anderen Zellen, tierische und pflanzliche, pflegen, so gut wir können.
Zum Teil natürlich uns auch einverleiben, aber nur so weit, wie wir das für unser Leben brauchen.
Aber wir dürfen keine Zellen aus anderen Gründen vernichten oder töten.
Dann leben wir in Frieden miteinander und in Frieden mit Gott.
Wir sind Zellen Gottes und Gott erfüllt uns ganz.“
Die anderen Mitreisenden waren jetzt erst recht sprachlos und wußten eine ganze Zeitlang nicht, was sie entgegnen sollten.