Paul B.

Eigentlich hatte Paul B. heute kein Ziel. Aber er war von Unruhe erfüllt. Er lief auf dem belebten Gehweg in der Innenstadt, kurz vor der Fußgängerzone. Es regnete leicht. Autos flitzten vorbei. Ihre Reifen spritzten das Regenwasser auf die Passanten. Paul störte das wenig, denn er versuchte ständig, den ihm entgegenkommenden Menschen auszuweichen. Sie liefen einfach auf ihn zu, als hätten sie ihn nicht gesehen.

Plötzlich kam ein Kind auf ihn zugelaufen. Es mochte vielleicht fünf Jahre alt sein, schaute zu ihm hoch, seine Augen wurden ganz groß,  dann machte es einen Schritt zur Seite und lief an ihm vorbei. Paul wurde es trotz dem schlechten Wetter warm ums Herz. Alle Erwachsenen rannten ihn beinahe um, aber dieses kleine Kind ging respektvoll zu Seite.

Bald kam er an einem Straßencafé vorbei. Aufgestellte Sonnenschirme hielten den Regen von einigen Tischen ab. Für Paul B. war aber kein Platz mehr. Also begab er sich in das Innere des Cafés. Ganz hinten, am Ende, neben der Toilettentür, war noch ein Tischchen frei. Dorthin setzte er sich und wartete auf die Bedienung.  Doch die völlig abgehetzte Kellnerin übersah ihn. Mehrfach hob er die Hand. Es nützte nichts. Die Kellnerin schaute einfach an ihm vorbei. Es war ihm, als würde sie durch ihn hindurch schauen. Nach etwa 20 Minuten wurde es Paul B. zu dumm, und er kämpfte sich durch das vollbesetzte Café wieder nach draußen, sorgsam darauf achtend, dass er niemanden anrempelte.

Der Regen hatte etwas nachgelassen. Paul verließ die Fußgängerzone und kam wieder zur Straße. Er wollte nur noch nach Hause. Allen Passanten wich er aus. Heute hatten es die Menschen wohl sehr eilig. Einmal trat er aus Unachtsamkeit auf die Fahrbahn, sprang aber schnell zurück auf den Gehweg. Beinahe hätte ihn ein Auto überfahren, merkte er mit großem Erschrecken. Er war offenbar viel zu müde und sehnte sich nach seinem Bett.

Noch drei Ecken, und endlich kam er in die Straße, in der er wohnte. Vor dem Eingang seines Wohnhauses  hockte eine Katze, die er gut kannte. Er bückte sich zu ihr hinunter und wollte sie streicheln, was er immer tat, wenn er sie sah. Doch heute benahm sie sich seltsam.  Die Haare ihres Felles richteten sich auf, und fauchend lief sie davon. Noch etwas Seltsames fiel Paul B. auf: Die Eingangstür seines Wohnhauses stand offen, was sonst eigentlich nie der Fall war. Langsam ging er die Treppe hoch bis zum ersten Stock, in dem er wohnte.

Auf dem Treppenhaus kamen ihm drei Menschen entgegen, zwei Männer und eine Frau. Sie sprachen leise miteinander, und Paul überlegte sich, ob er diese Leute kannte. Sollte er sie grüßen oder nicht? Aber die Frage erübrigte sich, denn sie sahen nicht zu ihm hin. Er drückte sich am Rand des Treppenhauses an die Mauer und ließ die drei passieren.

Auch die Tür zu der Wohnung, in  der er lebte, stand offen. Was war denn hier los? War ein Unglück geschehen? Paul B. klopfte das Herz bis zum Halse. Er wurde immer unruhiger. Vor sich sah er das Wohnzimmer. Der Tisch war gedeckt, es gab Kaffee und Kuchen, das Licht war gedämpft, einige Kerzen brannten, und um den großen Wohnzimmertisch saßen mehrere Leute. Es mochte etwa ein Dutzend sein.

Paul B. sah seine Eltern, seine zwei Brüder und die Schwester. Und sogar zwei seiner Großeltern, aber das konnte nicht sein, denn die waren ja schon tot. Er rieb sich über die Augen, schluckte und schnaufte. Dann erblickte er ein großes Bild, das auf dem Tisch stand. Es gab keinen Zweifel: Das Bild war ein Foto von ihm mit einem Trauerflor am Rahmen.

Da endlich begriff Paul B., dass er tot war.

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